Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Stigmatisierten haben selbst schuld. 63
Wie erklären die Kolonisten sich, dass die Gruppe, genannt »Die Vögel«, ausgegrenzt wird?
Die Jungs sollen sie nicht zu Gesicht bekommen. – Sie haben etwas angestellt. Darauf flog die ganze Gruppe raus und durfte nie wieder rein. – Sie dürfen erst wieder rein, wenn sie vierzig Jahre alt sind. – Den Namen haben sie sich selbst gegeben, zuerst hießen sie Wandervögel, weil sie immer unterwegs sind. – Sie werden verschmäht von allen. – Aber bei großen Veranstaltungen wird eine der Doppeltüren im Saal aufgemacht, da dürfen sie durchgucken.
Der Saal
Vier Reihen Tische und Stühle stehen im großen Saal, in dem gegessen wird und wo Veranstaltungen stattfinden. Zwischen den Stühlen und Tischen sind Gänge, manche so schmal, dass man kaum aufstehen kann. Oben in der Ecke steht der Thron von Schäfer. Er sitzt erhöht und sieht alles. Abends sieht er die erschöpften Kolonisten blockweise den Raum betreten und sich melden: »Omagruppe komplett versammelt!« Dann dürfen sie sich setzen. Den ganzen Tag haben alle, die sich bewegen können, geschuftet. Paul Schäfer hingegen hat lange geschlafen, dann folgten Kontrollgänge in seine Überwachungsanlagen, und über Mittag hat er in seinen Räumen im Freihaus einen oder zwei Jungen missbraucht, dabei spielte das Lagerorchester vor dem Gebäude bayrische Volksmusik, stimmungsaufhellend und geräuschdämpfend. Abends ist er munter und hält gern lange Reden. Die im Saal sehen nicht, was Schäfer macht. Oft steht einer der Jungen vor ihm, mit dem Rücken zum Saal, und muss sich betatschen lassen. Die meisten Jungen wissen es. Die, die es nicht wissen, besonders die Frauen, sehen es nicht. Gesprochen wird darüber nicht.
»Mit uns kann man nicht reden«, sagt Hartmut Hopp einmal. In gewisser Hinsicht hat er recht. Sprache und Wortschatz der Kolonisten haben sich in fünfzehn Jahren so verändert, dass Outsider es kaum noch verstehen, selbst wenn Wolfgang nur ihre Sitzordnung im Speisesaal beschreibt: »Hier sitzen die Herren, die mittleren Knappen, ganz oben die Heilsarmee. Die Spechte sitzen auf der anderen Seite und dort die Edelweiße. Dann kommen die großen Knappen. Die Mittleren sitzen auf der anderen Seite uns gegenüber. Wir alle sehen, wie die Vögel an der Tür stehen. Im Durchgang dürfen sie nicht stehen.« 64
Man erklärt dies mit organisatorischen Gründen. Auch Gudrun deutet es so: Da werden die großen Essenswagen durchgeschoben, denkt sie, da würden die Vögel im Weg stehen.
Einmal fragt sie nach: »Warum dürfen die nicht in den Saal rein?«
»Das hat seine Gründe«, ist die einzige Antwort, die sie bekommt.
Irgendetwas Schlimmes müssen sie also angestellt haben, glauben die meisten, aber was das ist, weiß keiner, man kann es sich nur denken. Es muss eine Strafe sein, glauben die meisten, vielleicht war es etwas mit Jungen.
»Sie sind ja immer so behütet«, sagt Gudrun auch viel später noch und wählt dabei einen Ausdruck, der Schutz und Fürsorge andeutet statt Ausgrenzung. Es ist eine Gruppe von zwanzig Frauen. Niemand soll sie sehen, und auch sie sollen keinen ansehen. Die Gruppentante ist immer dabei und geht immer voraus. »Nicht hochgucken!«, schreit die Gruppentante. »Im Laufschritt marsch!«
Der Weg, den sie immer wieder entlanggehen müssen, wird zum Albtraum. Immer wieder haben sie es vor Augen: Dort ist das passiert, an dieser Ecke jenes.
Doch ihre Arbeitskraft wird benötigt, und daher müssen sie manchmal auch mit erwachsenen Männern arbeiten. Mit dieser Gruppe trifft Wolfgang in der Malerwerkstatt zusammen. Oft nachts. Wenn sie kommen, sagt der Mauk: »Onkel Ernst, geh mal was zu trinken holen für die.« Die Mädchen dürfen die Männer nicht ansehen. Und die Männer dürfen sie nicht ansehen, es ist gefährlich und wird sofort bestraft. Es ist Sünde, es kommt vom Teufel; Hurenweiber nennt Schäfer die Mädchen. Das macht es sehr interessant, findet Wolfgang. Selbst wenn man das alles beichten muss, bis in die tiefsten Gedanken hinein.
Er spürt, was dieses Tabu bewirken kann: »Sie gucken uns an – und zack! Erektion! Wir müssen es verstecken, sagt Schäfer, damit sie es nicht merken. Er sagt, es ist eine Schande, wenn das passiert, nie darf ein Mädel merken, dass da eine Erhöhung in der Hose ist. Wir müssen lernen, die Erektion in uns nicht zu spüren.«
Den Jungen dieser Altersgruppe geht es kaum besser als den Mädchen. Lange Zeit werden sie in der Klinik
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