Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

untergebracht, unter Tabletten gesetzt und mit Elektroschocks gequält. Abends setztman sie dicht an einen sehr warmen Ofen, damit sie müde werden. Nackt werden sie aufs Bett gelegt, müssen ständige Bewachung ertragen. Tagsüber werden sie unter Drogen gesetzt und müssen schwere Arbeiten verrichten wie Steine sammeln.
    Die Jungen werden auf verschiedene Betriebe verteilt. Mit elf Jahren arbeitet Bernd in der Mühle, muss zusammen mit der Oberleiterin in einem fensterlosen Raum schlafen. Oft schreckt er hoch, weil sie im Nachthemd drohend vor ihm steht und mit einem Gummiknüppel auf ihn einschlägt. »In dir ist der Teufel«, schreit sie, »du hast dich angefasst.«
    Jede Bewegung wird als sexuelle Regung gedeutet. Wenn die Kinder auf einem Stuhl sitzen und mit den Beinen baumeln, weil ihre Füße noch nicht auf den Boden reichen, wird ihnen unterstellt, sie hätten »etwas Sexuelles« gemacht, und es gibt Schläge. Einmal muss Bernd zur Strafe fünfhundert Kniebeugen machen.
Präsident Salvador Allende
    Ende des 15. Jahrhunderts wurde Südamerika ein Kolonialreich, aufgeteilt zwischen Spanien und Portugal. Ohne die Bodenschätze und die von der einheimischen Bevölkerung in Sklavenarbeit erwirtschafteten Reichtümer hätte es kein spanisches Weltreich gegeben.
    Nach dem Übergang in die Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert entstanden Republiken in Südamerika. Doch die Mächte des Westens wussten immer, dass sie sich in diesen Ländern gigantischen Reichtum und Macht verschaffen konnten und noch können. So beobachten die USA misstrauisch alle Entwicklungen im Schwester-Kontinent, die sozialistische oder kommunistische Parteien an die Regierung bringen könnten. In den Siebziger- und Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts kommen in vielen südamerikanischen Ländern von den USA gesteuerte rechtsgerichtete Militärdiktaturen an die Macht. Die Verwicklung amerikanischer Geheimdienste ist kein Geheimnis. Zehntausende von Menschen,vor allem politische Gegner, werden gefoltert und ermordet. Desaparecidos , Verschwundene, nennt man diese Menschen. Die meisten werden irgendwo verscharrt.
    1970 bahnt sich in Chile ein Regierungswechsel in Richtung Sozialismus an. Der Präsidentschaftskandidat Salvador Allende will die Armut und das Elend besitzloser Landarbeiter und Bewohner städtischer Elendsviertel bekämpfen. Er plant tiefgreifende Reformen, auch Enteignungen. Aus Sicht der US -Regierung bedroht Allende damit US -amerikanische Interessen. Nicht nur reiche Landbesitzer sind beunruhigt, besorgt sind vor allem amerikanische Kupfer- und Elektronikkonzerne wie ITT , deutsche Firmen wie Hoechst, Bayer, BASF , Dresdner Bank, Hertie, Otto und viele andere, die hier in Chile ihre Claims abgesteckt haben. Die Angst vor Enteignung ist groß, die Angst vor dem Kommunismus wird geschürt.
    Am 4. September 1970 sind Wahlen in Chile: Entweder wird der Sozialist Allende oder der konservative Gegenkandidat Alessandri zum Präsidenten gewählt. An diesem Tag entscheidet sich das Schicksal vieler Menschen.
    Paul Schäfer lässt beten. In dieser Nacht liegt die gesamte Kolonie auf Knien und fleht Gott um Hilfe an. Gott soll dafür sorgen, dass Alessandri an die Macht kommt. Doch Allende gewinnt die Wahl. Allende ist vom Teufel, sagt Paul, er wird euch alles wegnehmen, er wird dafür sorgen, dass der russische Stiefel euch auch hier zertritt. Ihr habt nicht aufrichtig gebetet, nicht tief genug.
    Noch einer tut alles, was in seiner Macht steht, um den Erfolg des demokratisch gewählten Allendes zu verhindern: der amerikanische Präsident Richard Nixon. Er lässt morden.
    Am 16. September 1970 gibt Präsident Nixon dem US -Geheimdienst CIA einen Militärputsch gegen den chilenischen Präsidenten Allende in Auftrag. 65 Innen- und Verteidigungsministerium werden nicht informiert. Die verdeckte Aktion darf zehn Millionen Dollar kosten. Die amerikanische Beteiligung (American hand) soll nicht bekannt werden. Es werden schließlich dreizehn Millionen Dollar. Nixon findet, die Aktion ist ihr Geld wert.
    Auch Schäfer fühlt sich durch die Regierung Allende bedroht und bereitet sich auf Krieg vor. Spirituell und militärisch.
    In den drei Jahren der Allende-Regierung gibt es in der Colonia Dignidad sogenannte »Vierecke«, kleine Gebetsgruppen, in denen Männer und Frauen – getrennt natürlich – Gott anrufen müssen, damit Allende abtritt und das Militär die Regierung übernimmt. Wolfgang und Gudrun werden oft aus der Versammlung