Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
ausgeschlossen, weil Schäfer den Eindruck hat, sie sagen im Gebet nicht die Wahrheit. Was für eine Wahrheit auch immer.
Erstaunlicherweise tastet Allende die Colonia Dignidad nicht an. Inzwischen ist sie eine Wirtschaftsmacht, die viel für die Entwicklung der Region unternimmt. Die einheimischen Nachbarn schätzen sie wegen der neuen Straßen, Brücken, der guten Lebensmittel, des Krankenhauses, sie schafft auch Arbeit. Die Polizei deckt sie, auch die katholische Kirche schweigt. Da Schäfer in umliegenden Bordellen Kameras installieren ließ, besitzt er Erpressungsmaterial, um auch Mächtige auf Linie zu bringen. Deutsch-chilenische Wirtschaftsinteressen sind ebenfalls berührt; sicher lässt man Allende das spüren.
In der Kolonie werden Tag und Nacht Zäune und elektronische Anlagen errichtet, Waffen und Uniformen angefertigt, Sprechanlagen angebracht. Die Heilsarmee wird gebildet, ein Zusammenschluss männlicher Jugendgruppen, 43 Personen sind es insgesamt. Auch Bernd Schaffrik gehört dazu. Eingeteilt sind sie in Bimmels und Bammels . Bammels sind Aufpasser, auf die Bimmels wird aufgepasst. Einen Meter Abstand müssen die Bimmels voneinander halten und dürfen nur mit den Bammels sprechen.
Nach vielen Jahren Steinesammeln, Straßenbau, Hausbau ziehen die Jungen nun Zäune. Zäune um Wohngebäude, Wirtschaftsgelände, Zäune um den Flugplatz und einen Teil der Hochfläche. In den Wäldern legen sie »Mauspfade« an, schmale Pfade, auf denen man mit dem Fahrrad, dem Motorrad oder zu Fuß bis zum Eingang der Kolonie gelangen kann, ohne dass man von den offiziellen Straßen aus gesehen wird. Das ist Knochenarbeit für die Kinder, da die Böden der Wälder von Steinen und Wurzelwerkdurchzogen und steinhart sind. Alle Hundert Meter müssen sie Stufen in die bewaldeten Berge graben, damit »Sicherheitsmannschaften« schnell auf die Hochflächen kommen, um Eindringlinge oder Flüchtende abzufangen. Aussichtsposten werden mit Funk und mit Ferngläsern ausgerüstet und sind in den Siebzigerjahren ständig besetzt.
In den Wäldern werden grün gestrichene Kupferdrähte gespannt, so fein, dass ein Mensch, der rennt, nicht merkt, wenn er sie zerreißt und in der Zentrale Alarm auslöst. Zwei oder drei Drähtchen sind kurz hintereinander gespannt, sodass man weiß, in welche Richtung der Flüchtige läuft. Zusätzlich gibt es versteckte Lichtschranken, Bewegungsmelder, Fernaugen und Kameras. Hierfür ist nur eine kleine Gruppe zuständig; die meisten Kolonisten wissen nicht, wo die Anlagen installiert sind. So ist eine unbemerkte Flucht fast ausgeschlossen.
KAPITEL 17
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Zerstörte Hoffnung
1973
Politik: Radikalenerlass; Watergate-Affäre;
Militärputsch in Chile.
Gesellschaft: Ölkrise; Sonntagsfahrverbot;
Höchste Scheidungsrate seit 1945;
Plateau-Schuhe; Glitzer-Kostüme.
Im Kino: Papillon (Steve McQueen, Dustin Hoffman).
Schlager: Ein bißchen Spaß muß sein (Roberto Blanco).
TV : Sesamstraße; Ein Herz und eine Seele; Klimbim. Literatur: Angst vorm Fliegen (Erica Jong)
Spruch des Jahres: Freie Fahrt für freie Bürger!
Die Lage spitzt sich zu. Am 11. September 1973 unternimmt General Augusto Pinochet einen Militärputsch und stürzt die demokratisch gewählte Allende-Regierung. Als Kampfjets das Präsidentenpalais in Santiago angreifen, hält Salvador Allende eine letzte Rede an sein Volk, die ein Radiosender direkt überträgt. Dann nimmt er sich das Leben; die Schüsse hört man im Radio.
Eine Hoffnung ist zerstört.
Von da an bis zum 11. März 1990 regiert Pinochet diktatorisch.
Während des Putsches und in den folgenden Tagen werden Tausende verhaftet, 40 000 Menschen werden im Nationalstadion in Santiago zusammengetrieben, viele von ihnen gefoltert. Konzentrationslager werden eingerichtet und Regimegegner und Kommunisten verhört und gefoltert. 3 100 bis 4 000 Menschen werden ermordet oder verschwinden.
Mehr als hundert von ihnen in der Colonia Dignidad.
Desaparecidos , Verschwundene auch dort. Ihre Gräber werden erst nach Jahrzehnten gefunden.
Schon vor dem Militärputsch bietet Paul Schäfer Manuel Contreras die Zusammenarbeit an. Zwischen beiden entwickelt sich eine herzliche Freundschaft zu beiderseitigem Nutzen. Nach dem Putsch wird Contreras Chef der neu gegründeten Geheimpolizei DINA . Er ist oft zu Gast in der Kolonie. Auch Pinochet und seine Gattin kommen gern.
Am 18. Oktober 1973 wird in der Colonia Dignidad ein Brief an Mina und Wilhelm Wagner in Graz geschrieben:
Lieber Papa
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