Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
u. Mama!
Unseren letzten Brief werdet Ihr ja schon bekommen haben? Wie wir schon erwähnt haben, hat sich bei uns in Chile vieles geändert. Leider werden aber überall falsche Nachrichten verbreitet, was uns sehr traurig macht, deshalb schicke ich Euch einen Bericht, der die Wahrheit schreibt und was wir auch bezeugen können. Es ist nur in kurzen Worten geschrieben die ganze Wahrheit würde zu weit führen. Wir sind so froh, das jetzt allem Marxismus ein Ende gemacht wird und wir wieder froh und frei sein können. Uns geht es allen sehr gut, sind alle gesund und munter, und die Arbeit macht uns viel Spaß. Unser Obstgarten steht jetzt in voller Blüte, eine Pracht, wir haben einen großen Obstgarten.
Wie geht es Euch?
Viele Grüße auch von den andern, Basti, Gudrun, Else, Martha und von Eurer Hannchen.
Der Brief ist mit der Hand geschrieben, die Unterschriften stammen von nur einer Person. Viele solche Briefe werden in diesen Tagen an Familienangehörige in Deutschland geschrieben; es sind Propagandabriefe, vermutlich von Schäfer in Auftrag gegeben. Nach einigen Jahren Funkstille, in denen die Kolonisten auf Schäfers Befehl keinen Kontakt haben sollten oder Briefe unterschlagen wurden, sind nun viele positive Äußerungen zum Pinochet-Regime erwünscht, und man darf seiner Familie wieder schreiben.
Jahrelang werden auf dem Gebiet der Colonia Dignidad Oppositionelle interniert und gefoltert. Hierfür bietet Paul Schäfer Fortbildungen an mittels Folteranweisungen aus der Nazizeit. Mehr als hundert Menschen werden hier ermordet und verscharrt. Wer überlebt, erinnert sich an diesen Ort, wo es anders war als in den Foltergefängnissen der DINA . So sauber, so ordentlich. Selbst die Folter war von anderer Art. Fast wissenschaftlich nennen es einige.
Währenddessen bahnt sich eine Veränderung in Gudruns Leben an, von der sie bislang nichts ahnt.
KAPITEL 18
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Liebe in den Zeiten der Folter
Ach, Lieben ist eine Reise mit Wasser und mit Sternen,
mit erstickter Lust und jähen Stürmen aus Mehl;
Liebe ist ein Kampf mit Blitz und Wetterleuchten,
und um des einen Honigs wegen zerfließen da zwei Leiber.
Pablo Neruda, chilenischer Nationaldichter
* 12. Juli 1904 in Parral;
† 23. September 1973 in Santiago de Chile
Vier Jahre wartet Wolfgang, nachdem er Gudrun zum ersten Mal auf der Bühne im Fundo wiedergesehen hat. Es ist schwer. Es ist schwer zu warten, aber es ist auch schwer, etwas zu tun. Es dauert lange, bis er sich durchringen kann, mit ihr zu sprechen. Wie kann ich sie treffen und wo? Wie nimmt sie das auf, und was für ein Risiko geht sie ein? Er weiß noch aus erlauschten Gesprächen in Lutter, dass man so eine Frage stellen kann, wie er sie stellen will.
Er beobachtet, wo sie arbeitet. Welche Wege sie nimmt. Wann sie wo ist. Beobachten, ohne beobachtet zu werden, denn niemand darf ahnen, was Wolfgang plant. Er versucht herauszufinden, wo es einen sicheren, aber öffentlichen Ort geben kann, um sie anzusprechen. Für einen kleinen Moment müssen sie allein sein, aber niemand, der zufällig durch den Raum kommt, darf dem irgendeine Bedeutung beimessen.
Einige Wochen nach dem Militärputsch beschließt er, es wird in der Schälküche sein. Dort, wo das Gemüse geputzt wird, arbeitet sie, und er kann diesen Raum betreten, ohne Verdacht zu erregen.
Eines Tages sagt er dann im Vorbeigehen, so unauffällig wiemöglich: »Ich möchte dich gern mal sprechen.« Denselben Satz, den er schon einmal gesagt hat. Vor dreizehn Jahren.
Gudrun erschrickt, sie fühlt ihren Herzschlag im Hals, sie meint, auch andere müssten es hören. Schäfer hört es bestimmt. Allein dieser Austausch ist ein Tabubruch und kann Schläge und Schlimmeres nach sich ziehen. Dennoch geht sie auf Wolfgang ein. »Aber nicht hier.«
Beide machen eine Atempause. Sie schauen sich um. Niemand ist da. Ihr Abstand voneinander beträgt anderthalb Meter, das wird geduldet. Nun muss Wolfgang das Kunststück vollbringen, nicht näher zu kommen, aber auch nicht zu laut zu sprechen. Nebenan darf ihn niemand hören. Aber zu leise darf er auch nicht sein, denn Gudruns Ohren sind durch die routinemäßigen Ohrfeigen schon geschädigt. Wie bei vielen hier. Doch das wissen beide noch nicht.
»Abends auf dem Acker.« Es ist raus. Sie hat es gesagt.
»Auf dem Kuhweg«, ergänzt er. Er weiß genau, auf dem Pfad, über den tagsüber die Kühe getrieben werden, ist abends keiner. Über Plätze der Einsamkeit denkt er schon lange nach.
Dann verlässt
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