Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
nicht?
Doch. Sie glauben ihm.
Waltraud findet es ganz verständlich, dass die Eltern entsetztdarüber sind. Alle sind der Meinung, es müsse dringend etwas unternommen werden. Man müsse die Kinder von ihrem entsetzlichen Treiben kurieren, sie dem Bösen entreißen. Beten und Teufelsaustreibung seien wohl nicht genug. Schäfer hat zwei Möglichkeiten im Angebot. Er sagt den Eltern, er habe mit einer Psychologin gesprochen. Diese sei der Meinung, den Kindern fehle die Liebe der Eltern, und sie sollen die Kinder wieder zu sich nehmen.
Doch es gebe auch den Weg der Härte.
Sie wählen den Weg der Härte.
Das weiß Waltraud inzwischen von ihrer Mutter.
Doch wie kann es sein, dass Eltern dem zustimmen – wie weit auch immer sie sich innerlich von ihren Kindern entfernt haben?
Über dieses Phänomen sprach einmal ein Anhänger einer anderen Endzeitgruppe, der Mini-Sekte »The Seekers«, in Chicago, die den Weltuntergang für den 21. Dezember 1954 angekündigt hatten. Als der Weltuntergang nicht eintrat, sagte der Mann – er war Physiker: »Ich habe alles aufgegeben. Ich habe jede Verbindung abgebrochen, jede Brücke abgerissen. Ich habe der Welt den Rücken gekehrt. Ich kann es mir nicht leisten zu zweifeln. Ich muss glauben.« 61
Die Eltern in der Colonia Dignidad hatten noch mehr aufgegeben. Sie hatten bis dahin – 1969 – mehr als zehn Jahre ihres Lebens für eine Sache gegeben, von der sie als gläubige Christen zutiefst überzeugt waren. »Es geht um Ewigkeitszubereitung«, hatte Paul Schäfer schon 1954 in seinem Rundbrief Nr. 4 geschrieben und damit trotz seiner ungelenken Sprache die Herzen seiner Anhänger ergriffen. Sie überschrieben ihm ihren Besitz, verließen ihre Heimat und ließen zu, dass er ihre Familien zerriss.
All das taten sie, weil sie Schäfer nicht nur glaubten, sondern weil sie an ihn glaubten wie an einen Gott. Gottheiten machen verrückte Sachen, aber sie machen keine Fehler. Wir Menschen können sie manchmal nur nicht verstehen. Dieses mag eine erträglichere Erklärung sein, als zu sagen: Ich habe mich von Anfang an täuschen lassen, ich habe mich furchtbar geirrt, ich bin einemIrrtum erlegen, der mein Leben und das meiner Kinder zerstört. Aber leider kann ich hier nicht weg.
In vielen Fällen macht unser Gehirn diese Zerreißprobe nicht mit, denn sie fühlt sich sehr unangenehm an. Dieses störende Gefühl nennt man kognitive Dissonanz. Um sich von diesen emotionalen Misstönen zu befreien, macht das Gehirn einen Ruck, ändert einen Teil der Ansichten (Elternliebe), wahrscheinlich auch der Persönlichkeit und entscheidet sich für die stärkere Seite, die, auf der die anderen auch stehen. Dann geht das unangenehme Gefühl weg. Die Welt ist wieder in Ordnung. Auch wenn sie ganz und gar in Unordnung ist.
So könnte es gewesen sein.
In der Kolonie gibt es viele Versionen eines Ereignisses und viele Erklärungsversuche. Da Diskussion und Austausch von Informationen nicht möglich sind, kann auch kein Abgleich stattfinden, und jeder bleibt bei seiner Version oder der offiziellen Version Schäfers, die Mädchen hätten die Jungen verführt. Einige sehen im sexualisierten Verhalten der Jungen untereinander einen weiteren Anlass für die abrupte Trennung. Vielleicht gibt es noch eine dritte Möglichkeit. 1969 und 1970 sieht Schäfer sich gezwungen, einige Hochzeiten in der Führungsschicht zuzulassen. Diese Funktionsträger sind nicht so leicht zu ersetzen, er muss Kompromisse machen. Vermutlich braucht er einen inneren Ausgleich für dieses Zugeständnis an die Heterosexualität und Liebesbedürftigkeit seiner Anhänger. So beschließt er, die Geschlechtlichkeit der Mädchen in früher Kindheit vollkommen zu zerstören und die Sexualität der Jungen umzupolen. Damit startet er eine Versuchsreihe, die in das Programm MK -Ultra des US -Geheimdienstes gepasst hätte. Und vielleicht tat sie das ja auch.
KAPITEL 16
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Der Weg der Härte
1970
Politik: Willy Brandts Kniefall von Warschau;
Allende-Regierung in Chile.
Gesellschaft: Grippewelle mit mehr als zweitausend Todesopfern in Deutschland.
Schlager: El Condor Pasa (Simon & Garfunkel);
Let it be (Beatles); Paranoid (Black Sabbath).
Spruch des Jahres: Ich will so bleiben, wie ich bin!
(Du-darfst-Diätreihe)
Mit acht Jahren bekommen Waltraud und ein anderes Mädchen Leistenbrüche. Als Folge von endloser Plackerei und dem Heben schwerer Lasten. Zur Strafe lässt eine der »Gruppentanten« die frisch operierten Kinder Kniebeugen
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