Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
wiederholt sich. So zart, wie er sie wahrnimmt, geht Wolfgang auch mit ihr um.
Wie geht es einem Mann, der seit Jahrzehnten auf eine Frau wartet, ohne dass sie es weiß? Der sie heranwachsen sieht und sie nicht erreichen kann. Ein Junge, der grob missbraucht wird. Dem seit fünfzehn Jahren erzählt wird, dass Frauen Teufelsbrut sind, dreckig und verachtenswert? Der darauf trainiert wurde, sexuelle Erregung nicht zu spüren. Der wegschauen muss, wenn Frauenseinen Weg kreuzen. Was macht der, wenn er allein ist mit der Frau, die er seit Langem liebt?
Als sie in ihrem Versteck sind, der Blechhütte, fällt all das plötzlich von ihnen ab.
Er kann sich so geben, wie er ist, er kann sich ausziehen, und sie kann er auch ausziehen. Alles ist plötzlich ganz leicht. Sie lachen. Alle Zeit der Welt.
»Es war ein zauberhafter Moment«, sagt er noch heute. »Es war der siebte Himmel.«
Sie schauen sich an. Sie, die sich nicht einmal selbst anschauen dürfen, geschweige denn andere, betrachten einander mit Ruhe und Neugier. Sie suchen nach Wörtern, denn sie haben keine gelernt. Zart berühren sie einander. Wolfgang ist ganz vorsichtig; ganz sanft geht er mit ihr um. Wie mit etwas sehr Zerbrechlichem.
Er ist lieb, denkt Gudrun.
Sie erzählt ihm von ihrer Angst. Dass sie nie mehr erleben möchte, was sie in Siegburg erleben musste. Zwar weiß sie noch nichts von den Schlägen, der Folter, aber ihre Erinnerungslücken fühlen sich so schrecklich an, und in den schwarzen Lücken verbinden sich Lust und Schuld miteinander. Als sie es erzählen kann und er sie tröstet, verschwindet das Gefühl. Für diesen einen Moment. Sie sehen sich an und finden sich schön. Sie sind schön. Aber sie wissen es nicht, denn sie leben seit ihrer Kindheit in einer Umgebung, wo das Schöne verteufelt wird und das Grobe verherrlicht. Er, den andere immer nur schlechtmachen, über den sie sich lustig machen, und sie, für die Schäfer nicht einmal einen Namen hat, haben erkannt, wer sie sind.
»Und dann habe ich das erste Mal auf ihr gelegen«, sagt Wolfgang. »Das vergisst man nicht, wenn es so schön ist.«
Egal, was jetzt kommt, denkt er, das ist alles, was ich in meinem Leben erreichen wollte.
Wie kann Wolfgang so sein? Woher hat er diese Zartheit? Seine Biografie, seine Kindheit und Jugend, nichts ließ auf so etwas hoffen.
Und dennoch.
Sie treffen sich, so oft sie können.
Nach einer Woche kommen sie zu sich. Du darfst das ja gar nicht, denkt Wolfgang, du darfst nicht einmal daran denken.
Aber sie treffen sich weiter, weil es so schön ist.
Eines Abends arbeiten sie zu dritt an den Maschinen in der Werkstatt, Wolfgang, »der Mauk« und »Kuddel«. Es dämmert schon, da sieht Kuddel, Karl Stricker, wie ein Bus vom Empfangshaus, vom Galpon herunter in ihre Richtung kommt. Der 31-jährige Siegfried Hoffmann sitzt am Steuer. Etwas ist merkwürdig, aber was? Sie schalten die Maschinen aus und lauschen. Die Straße führt an ihnen vorbei in die Berge. Irgendwo wird ein Licht angeschaltet.
Der Mauk sagt: »Ich muss gehen. Macht’s gut, bis morgen.«
»Was ist denn jetzt los?«, fragt Kuddel und schaut ihm nach. Plötzlich erlischt das Licht an der Straße. Der Motor wird leiser, der Wagen hält.
Kuddel sagt: »Mal gucken, was da los ist.« Wolfgang und Kuddel schleichen hinter eine Hecke und versuchen zu verstehen, was vor sich geht. Der Bus steht Richtung Schlosserei, der Weg führt in die Berge. Allmählich wird es dunkel.
Nach einer Weile sagt Kuddel: »Machen wir, dass wir abhauen.«
Was machen die bloß da unten?, denkt Wolfgang, während sie leise in die Werkstatt zurückschleichen. Er hat das Gefühl, dass Kuddel mehr ahnt. Lassen wir lieber die Finger davon – diesen Gedanken haben sie beide.
Es ist nicht nur ein Bus, es sind viele, die abends oder nachts auf den Fundo fahren, mit ihrer unheimlichen Ladung. Einen davon fährt Willi Malessa.
»Heute holst du den Bus ab«, sagt Schäfer zu Willi Malessa und erklärt ihm, woher und wohin. Bis zu einer bestimmten Stelle auf dem Fundo soll er fahren, dann aussteigen, den Bus an einen anderen Fahrer übergeben und warten, bis der Bus zurückkommt. »Um alles andere kümmerst du dich nicht«, sagt Schäfer.
Im Bus ist es dunkel, als Willi ihn übernimmt, Licht wird nichtgemacht. Menschen sind drin, das merkt Willi. Beim Halt auf dem Fundo steht schon Gerhard Mücke, um den Bus zu übernehmen. Ohne ein Wort schwingt er sich hinters Steuer und fährt los.
Willi wartet. Dann hört
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