Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
er Gewehrsalven. Als der Bus zurückkommt, ist kein Mensch mehr drin. Außer Gerhard Mücke. Da sagt Willi Malessa: »Nicht noch einmal.« Auch wenn er den Auftrag kriegt, er wird sich weigern, so einen Bus noch einmal zu fahren.
Von alldem weiß Gudrun nichts. Aber sie weiß, dass unter dem Wohnbereich ein Schacht ist, wo sie sich verstecken können, wenn Gefahr droht. »Wenn die Russen kommen«, sagt Schäfer, »dann verschwindet ihr da unten.«
Und Wolfgang weiß, dass in der Autohalle ein Waffenlager ist. Die Pistolen liegen im Freihaus hinter dem Pavillon. Pistolen und Munition. Bei Schießübungen und Einsätzen ist auch seine Gruppe dabei und holt sich Pistolen. Später lernen sie, mit Maschinenpistolen umzugehen. Sie lernen auch, sie zu bauen. Eine interessante neue Beschäftigung. Deutsche und israelische Maschinenpistolen bauen sie nach.
Darüber sprechen die beiden nicht, wenn sie sich sehen. Das ist eine andere Welt. Meistens bleibt sowieso nur wenig Zeit, sich anzuschauen, ein paar Worte zu wechseln. Sich zu berühren, sich bei der Hand zu nehmen. Wenn es möglich ist, sich kurz zu umarmen, welch ein Geschenk.
Heinrich Neufeld aus der Ukraine spricht perfekt Russisch. Er ist Dolmetscher. Heinrich sitzt unten im Kartoffelkeller bei den Wachen und stellt Schuhputzbürsten her, wenn er nichts zu tun hat. So viele Bürsten, dass er sie verschenkt. Auch Wolfgang bekommt welche.
Und wenn er etwas zu tun hat?
Wenn er etwas zu tun hat, dann übersetzt er, was die Russen, die sie geschnappt haben, sagen.
Nachdem sie gefoltert wurden.
Gefoltert wird im Kartoffelkeller. Oben drüber sind Schlafräume. Oben hört man manchmal die Schreie.
Als Heinrich mal etwas zu tun hat, kriegt er mit, was sie mit den Russen machen.
»Was für scheußliches Essen die Russen kriegen«, sagt er zu Wolfgang. »Was wir nicht mehr essen, das kriegen die.« Als ob es nur um das Essen ginge.
Russen in der Colonia Dignidad?
Vor allem Mitglieder der Allende-Regierung, Gewerkschaftler und politisch Linke werden verfolgt. Schäfer übersetzt das in eine Sprache, die seine Anhänger verstehen: die Russen kommen. Was in Deutschland perfekt funktionierte, setzt Schäfer in Chile wieder ein: die Angst der Flüchtlinge vor den Russen im Zweiten Weltkrieg. »Der russische Stiefel ist uns auch hierher gefolgt, wir müssen um unser Leben kämpfen, um nicht zertreten zu werden.« Diese Angst schürt Schäfer. Es wirkt so nachhaltig, dass Wolfgang Müller noch 2009 von »den Russen« spricht, obwohl weder er noch seine Eltern Fluchterfahrung hatten.
Aber Wolfgang ist sich sicher: Es waren Russen in der Kolonie. Zur Zeit des Militärputsches landeten sie an der chilenischen Küste, wurden gefangen genommen und in die Kolonie gebracht. Dort wurden sie gefoltert. Was sie sagten, musste übersetzt werden. Wolfgang ist nicht der Einzige, der dies berichtet.
1974 hört der evangelische Bischof in Santiago, Helmut Frenz, Gerüchte, dass in Chile gefoltert wird. Er geht den Gerüchten nach und begibt sich, von einem Kollegen begleitet, mit der Dokumentation unter dem Arm zu Pinochet persönlich. Um diesen nicht zu provozieren, reden sie nicht von Folter, sondern sagen »physische Behandlung«. Pinochet unterbricht: »Sie meinen Folter«, sagt er, dann fügt er an: »Wenn wir die Kommunisten nicht foltern, singen sie nicht.« 66
Adriana Borquez, Lehrerin für Französisch und Mitglied der kommunistischen Partei, wohnt in Talca. In den frühen Morgenstunden des 23. April 1975 wird die 39-Jährige von der DINA in ihrem Haus verhaftet, in die Colonia Dignidad verschleppt, dort 24 Tage gefangen gehalten und gefoltert. Wo sie ist, weißsie nicht, aber sie hört deutsche Worte. Hört, wie Männer über »psychologische Folter« bei Frauen reden. Bin ich in der Colonia Dignidad?, denkt Adriana. Sie will bei Verstand bleiben, sagt lautlos Gedichte von Pablo Neruda auf. In Parral, wenige Kilometer vom Folterkeller entfernt, wurde der chilenische Nationaldichter 1904 geboren. 67
Später, als sie auch andere Folterorte kennt, sagt sie, die Folter an diesem Ort war anders, technischer, und alles war so sauber. Eines Tages verrutscht ihre Augenbinde ein wenig, und sie kann sehen, dass der Teelöffel, den man ihr zum Essen gibt, eine Gravur trägt: Weihnachten 1958. Oder war es 1953? Sie sieht es nur einen kurzen Moment.
Eines Tages trifft Gudrun Wolfgang in der Autohalle. Dort sitzen sie in einem Pkw zusammen. Da geht die Schiebetür der Halle auf. »Leg
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