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Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Titel: Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Froehling
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er die Schälküche. Eine Zeit brauchen sie nicht zu vereinbaren, sie können es auch gar nicht. Keiner hat eine Uhr, nur die Gruppenleiter, zum Überwachen der Arbeit. Der Pito genügt, der hohe, durchdringende Ton, der die Bewohner zu den verschiedenen Tätigkeiten ruft.
    Nach seiner Arbeit wird Wolfgang so lange am Kuhweg warten, bis Gudrun kommt. Dass sie kommt, weiß er.
    So ein leichter Moment, denkt er, als er abends auf Umwegen dorthin geht. Er ist fröhlich. Aufgeregt und sehr fröhlich. Er muss sich zusammennehmen, um nicht zu hüpfen und zu singen. So ein leichter Moment, das hat er noch nie erlebt. Endlich kann er mit ihr sprechen. Unter vier Augen. In Gedanken spricht er schon mit ihr.
    Dieser wundervoll leichte Moment wird ihm immer im Gedächtnis bleiben. Alles Schwere ist plötzlich weg. Alles andere zählt nicht.
    Da kommt sie nun, die Kleine. Immer noch so zart. So was Feines. Man sieht es trotz der groben Kleidung, die sie tragen muss.
    Er möchte sie berühren, aber er tut es nicht. Ihre Hand anfassen vielleicht. Ihr Haar. Er spürt aber auch ihre Angst. Er weiß von ihren schlechten Erfahrungen. Vielleicht mehr als sie selbst. Er hat ein fast überwältigendes drängendes Gefühl. Aber er möchte ihr Vertrauen. Ganz zart will er umgehen mit ihr. Dass man ohne Angst einfach miteinander reden kann, ist schon unglaublich viel. Und wenn es nur ein paar Worte sind und ein paar Minuten.
    »Wollen wir zusammenkommen und zusammenbleiben?«, fragt er sie. Diese Frage ist so bedeutungsschwer, als hätte er gefragt: »Willst du mich heiraten?« Und das hat er ja auch.
    »Gib mir ein bisschen Zeit, ich muss überlegen. Ich kann das nicht sofort sagen«, antwortet Gudrun.
    »Nimm dir alle Zeit, die du brauchst«, erwidert Wolfgang. Und fragt gleich am nächsten Tag wieder nach. Später treffen sie sich wieder.
    »Ja«, sagt Gudrun. Mehr nicht. Eine schlaflose Nacht lang hat sie sich damit beschäftigt. Sie kennt ihn ja gar nicht. Geht sie danach, wie die anderen ihn sehen, wie er abgestempelt ist? Der Fuscher, der manchmal stottert, der Rotfuchs? Aber in ihrem Herzen ist es anders drin. Von Anfang an. Als er sie am nächsten Tag wieder fragt, da weiß sie: Ja. Ja.
    Und das Ja festigt sich immer mehr.
    Was bedeutet dieses Eheversprechen für zwei, die nicht zusammen gesehen werden dürfen, geschweige denn heiraten können?
    Trotz der ständigen sexuellen Angriffe des tío permanente , verlernt Wolfgang nicht, die Signale seines eigenen Körpers und seines Herzens wahrzunehmen. Trotz Strafe, Folter, Mordversuchen folgt er seinem Gefühl für Gudrun, für eine Frau. Einem Gefühl also, das in der Kolonie als unmoralisch, verderbt, vom Teufel gilt.
    Wolfgang ist jetzt 27, Gudrun 33 Jahre alt. Es gibt ein Foto von Wolfgang aus dieser Zeit. Er sitzt auf der Bruchsteinmauer zwischen dem Freihaus und dem Zippelhaus. An der HauswandKunst am Bau: die bekannte Plastik einer dürren, Lasten schleppenden Frau; auf vielen Bildern aus der Colonia Dignidad ist sie zu sehen. Bei genauem Hinsehen erst bemerkt man, dass die Lasten, die der Frau von den Händen hängen wie schwere Gewichte, zwei ebenso magere Kinder sind, eines von ihnen schreit. Die Sonne scheint Wolfgang ins Gesicht, er lächelt, und er sieht stämmig aus, kräftig, zupackend, mit hochgekrempelten Hemdsärmeln. Er wirkt jünger als 27, aber das liegt an der kurzen Hose, wie sie alle Männer bis vierzig hier tragen. Dazu Halbschuhe und Socken. Jemand hat mit Kugelschreiber einen Pfeil auf das Foto gemalt, er weist auf die Armbanduhr. Sie ist etwas Besonderes. Das ist ein offizielles Foto, das nach Hause geschickt wird, als Beweis, dass Wolfgang das Geschenk seiner Eltern tatsächlich erhalten hat. Nach der Aufnahme nimmt man ihm die Uhr wieder ab.
    Am nächsten Tag sehen sie sich wieder. Wolfgang geht in die Küche, Gudrun hat Frühdienst.
    Sagt sie Ja? Wenn sie Ja sagt, weiß er Bescheid. Ja. Heute will sie sich mit ihm treffen.
    Sie treffen sich, so oft sie können. Heimlich. Bei Nacht und Nebel. Draußen. Wo sollen sie auch hin? Einmal, was für ein Luxus, treffen sie sich in einer kleinen leer stehenden Wellblechhütte, einem Wohnwagen aus Blech. Das Hannelore-Häuschen. Wolfgang weiß, dass es ein Wachtturm ist, und Gudrun hat dort 1970 mit ihrer Gruppe, dem »Dornbusch«, kampiert, als sie die Wahl von Allende zum Präsidenten mit göttlicher Hilfe und inbrünstig betend verhindern sollten.
    Doch das ist jetzt egal.
    Der unvergleichlich zarte Moment

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