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Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Titel: Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Froehling
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dich auf den Boden«, flüstert Wolfgang.
    »Onkel Hermann« kommt rein, er macht die Tür auf, macht sie wieder zu, geht um den Wagen herum, macht die Haube auf, macht sie wieder zu, geht herum, geht wieder weg. Er sieht sie, aber er sagt nichts. »Onkel Hermann«, das ist Hermann Schmidt, in Heide war er Leiter des Jugendheims, jetzt ist er der »Präsident« der Kolonie.
    In jedem Raum sind Lautsprecher angebracht. Plötzlich eine Durchsage: »Fuscher, ruf in der Dunkelkammer an.«
    Wolfgang ruft an und wird in die Dunkelkammer beordert. Dort werden Filme entwickelt, die offiziellen und andere, die heimlich angefertigt werden. Es sind viele. Ach du Schande, denkt er, was passiert jetzt mit dir?
    Er geht hin, klopft. »Komm rein, geh in den nächsten Raum.«
    Durch drei Räume muss er gehen. Alle sind dunkel. Jetzt knallt es, denkt er, zieht schon mal den Kopf ein. Nach einer Weile geht das Licht an. Der Präsident kommt herein, sagt: »Pass mal auf, trefft euch nicht immer am selben Platz, verstanden?« Das war’s. Mehr passiert nicht. Wolfgang kann sein Glück kaum fassen.
    Nicht alle petzen. Manche sehen sie, aber sagen nichts. Nur im Vorbeigehen kurz: »Wir haben euch nicht gesehen.«
    Ein paar Tage später sagt der Schneidermeister zu Wolfgang: »Ich habe euch nicht gesehen, aber geht bloß nicht immer an die gleiche Stelle.«
    Doch es geht nicht lange gut. Sie werden wieder gesehen, und dieses Mal werden sie verraten. Wo sollen sie auch hin? Man kann sich nirgendwo verstecken. Alles findet draußen statt. Die wenigen Kinder, die in der Kolonie noch geboren werden, nennt man »Wald-und-Wiesen-Kinder«.
    Nur wenige Wochen dauert dieses kleine große Glück. Ein wenig Nähe und Wärme. Vertrauen. Etwas ganz allein zu zweit haben. Niemand sonst, nur wir beide. Erotische Versuche, tastendes Vorwagen. Obwohl ihnen immer die Angst im Nacken sitzt, erwischt zu werden. Das Besondere: Sie reden miteinander. Über ihre Gefühle und über das, was sie tun. Es ist schwierig, denn ihnen fehlen die Worte. Aber auch das Suchen nach Worten ist schön.
    Als der Schneider sie warnt, wissen sie, sie brauchen keine Angst zu haben. Aber es gibt andere, die gar nicht schnell genug bei Schäfer sein können. Dann gibt es »Maßnahmen«, und Wolfgang und Gudrun werden auseinandergerissen.
    Es ist vorbei.
König, Dame, Sprinter, Turm
    Auch für den elfjährigen Bernd Schaffrik bringt das Jahr 1973 einschneidende Veränderungen. Eines Tages wird er vom Neukra abgeholt und mit dem Fahrrad zum Freihaus, dem großen Empfangshaus, gebracht. Man führt ihn direkt in das Schlafzimmer zu Paul Schäfer im hinteren Teil des Gebäudes.
    Nun ist Bernd ein Sprinter. Und wird es lange bleiben.
    Wer sind die Sprinter, und was sind ihre Aufgaben? Auf diese Frage antworten viele Kolonisten zuerst: Sie sind Paul Schäfers persönliche Adjutanten. Ein Adjutant ist Offizier, der den Truppenbefehlshaber unterstützt. Doch in diesem Zusammenhang ist das beschönigend.
    Bernd weiß es besser. Bernd ist viele Jahre lang einer von Paul Schäfers Sprintern. Eine Rolle, für die man ausgesucht wird und aus der es kein Entrinnen gibt. Eine Rolle, um die andere Jungen einen aber auch beneiden. Schäfer lässt sich immer von zwei Jungen begleiten, einem jüngeren, meist im vorpubertären Alter, und einem älteren. Tagsüber tragen sie seine Aktentasche, nachts die Last sexueller Ausbeutung. Dass diese Last nicht nur Gewalt bedeutet, sondern auch Lust sein kann, macht es schwerer, nicht leichter, die Erlebnisse zu verarbeiten. Wer sich bei der Erfüllung seiner Aufgaben unwillig oder gar widerspenstig zeigt, landet im Krankenhaus bei Frau Dr. Gisela Seewald, der Doctora , wie sie genannt wird. Sie gibt den Jungen Elektroschocks mit Viehtreibern und Spritzen in die Hoden. Die Hoden schwellen dadurch massiv an. Möglicherweise handelt es sich nicht nur um Strafmaßnahmen, sondern auch um unnötige und gefährliche medizinische Experimente.
    Fast während seiner ganzen Kindheit hat Bernd seelische Qual und körperliche Folter erlebt. Aber kaum Nähe und Fürsorge. Nach dem Leid der frühen Jahre spürt Bernd ein großes Bedürfnis nach Liebe, Geborgenheit und menschlicher Wärme, ohne dass er sagen könnte, was ihm fehlt. Die Kinder kennen keine Bilder oder Bücher von Familienleben, keine Zärtlichkeit oder Liebe. Selbst die Kinderbibel ist stark zensiert, Hinweise auf Familie und Fortpflanzung sind zugeklebt. »Seid fruchtbar und mehret euch« kommt in ihren Bibeln

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