Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
wir schon lange nichts mehr von Euch gehört haben, möchte ich Euch ein paar Zeilen schreiben. Wie geht es Euch? Seid Ihr noch gesund und munter? Mir geht es ganz gut. Wir musizieren sehr viel, was mir viel Freude macht. Auch fange ich jetzt an Zitter zu spielen. Es macht mir Spaß, aber ich habe nicht gedacht, daß es sooo schwer ist. Trotzdem hoffe ich es zu erlernen. Papa, Du würdest es wahrscheinlich schneller erlernen als ich oder nicht? Was macht Hedi? Von ihr haben wir auch schon lange nichts gehört. Ich hoffe aber, daß es ihr auch gut geht. So nun für heute grüße ich Euch ganz herzlich Eure Gudrun.
Laßt doch bitte bald etwas von Euch hören.
Der Brief ist nicht datiert. »Mir geht es ganz gut«, schreibt Gudrun. Normalerweise geht es allen »sehr gut«. Dass es gelang, diesen Brief unzensiert zu verschicken, ist erstaunlich. Das Kompliment an den Vater – »du würdest es schneller lernen« – soll dem Vater Tröstliches sagen. Vielleicht weiß Gudrun nicht mehr, dass er im Gefängnis saß, aber dass er getröstet werden muss, scheint sie noch zu ahnen.
Mit dreizehn Jahren sieht Waltraud ihren Vater Alfred Schaak zum allerersten Mal. Zu Weihnachten darf er aus Deutschland in die Kolonie kommen. Paul Schäfer holt ihn mit seinem Mercedes in Santiago ab. Alfred Schaak ist nicht der erste wichtige Besucherin diesem Jahr. Ein Bedeutenderer war schon da: Am 25. August besuchte General Pinochet die Colonia Dignidad, die nun politisch im Aufwind ist. Schäfer hat aufs richtige Pferd gesetzt.
Auch für Alfred Schaak gibt es einen großen Empfang und ein Festessen, an dem alle Bewohner teilnehmen dürfen. Seine Töchter – wie die anderen aus der Gruppe der »Vögel« – müssen immer noch getrennt von der Gemeinde leben, dürfen aber am Tag des Empfangs zusammen mit den Brüdern und der Mutter dem Wagen auf einem offenen Geländewagen entgegenfahren.
An einer bestimmten Stelle des Weges, hinter der »Doktorfalle« 68 , sollen sie mit einer langen Blumengirlande den Weg versperren, damit Schäfers Mercedes anhalten muss und Alfreds Familie den Vater begrüßen kann. Als Waltraud ihren Papa aussteigen sieht, bleibt sie wie erstarrt an der Girlande stehen. Erst als sie sieht, dass ihre Geschwister den Vater begrüßen, traut sie sich hervor und erlebt zum ersten Mal das Gefühl, von ihrem Vater liebevoll in den Arm genommen zu werden.
Doch schon nach kurzer Zeit steigen die Eltern wieder in Schäfers Mercedes und fahren weiter. Die Kinder folgen im Geländewagen. Die ganze Gemeinde wartet am Empfangshaus auf das Eintreffen von Alfred Schaak.
Plötzlich stoppt der Wagen. Waltraud und ihre Schwester müssen aussteigen und allein zum Kinderhaus gehen, während die anderen Geschwister weiterfahren und der große Empfang und die Feier beginnen. An der Feier dürfen sie nicht teilnehmen. Diese Ausgrenzung und Verbannung bereitet den Mädchen fast unerträglichen Schmerz. Sie verstecken sich und weinen. »Warum sind wir schlechter als die Jungen?«, fragen sie sich. Sie wissen keine Antwort.
Am nächsten Tag arbeiten die beiden auf dem Feld, während Schäfer, Alfred Schaak und alle Jungen auf einem offenen Lkw am Feld vorbeifahren. Waltraud winkt ihrem Vater wild und glücklich zu. Niemand reagiert, alle sehen über die Mädchen hinweg, als wären sie Luft. Weinend brechen die beiden zusammen.
Der Junge wird in den Raum gebracht. Schäfer wartet schon. »Mach dir keine Sorgen«, sagt Schäfer, und er klingt fast fürsorglich. »Es ist alles in Ordnung. Zieh dich aus.«
Er verbindet dem jungen Mann die Augen. Das kennt der schon. Was dann folgt, kennt er aber nicht. Schäfer führt ihn in einen anderen Raum.
»Was du jetzt machst, das darfst du draußen nicht«, sagt Schäfer. »Reden darfst du auch nicht darüber. Hier, leg dich drauf.«
Der Junge tastet, er fühlt, dass etwas auf der Liege ist. Ein Mensch. Ein Mädchen. Da liegt ein Mädchen! Der Junge ist entsetzt. Was bedeutet das? Mädchen darf man nicht ansehen, man darf sie nicht berühren. Nur weg hier, denkt der Junge. Aber er kann nicht weg. Er kann nichts sehen. Er versucht unter der Augenbinde durchzusehen. Was soll ich hier? Was macht der mit dem Mädel?
»Mach dir keine Gedanken«, sagt Schäfer, »die sind betäubt. Na los.«
Der Junge tastet sich weiter. Sie ist ganz jung, merkt er, sie hat noch fast keinen Busen. Sie bewegt sich nicht. Schläft sie, oder ist sie tot?
»Na, los, mach schon«, treibt Schäfer ihn an. »Sie können sich
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