Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
nicht vor. Wahrscheinlich ruft Schäfer diesen Mangel, dieses tiefe Loch der Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit bewusst in den Kindern und Jugendlichen hervor und füllt es dann aus.
Schäfer kann väterlich, beschützend und trostspendend auftreten. Er kann drohen, einschüchtern, auch gewalttätig werden. Gewalttaten delegiert er meist an seine Schläger. Inzwischen hat er einen raffinierten Ablauf konstruiert: Wer ihm zuwiderhandelt, erhält »Maßnahmen«, das heißt, er wird durch einen Schläger verprügelt, ohne dass er weiß, dass Schäfer den Auftrag dazu gab. Eine Anordnung sagt, dass man sich nach einer solchen Bestrafung innerhalb weniger Minuten bei Schäfer melden muss. Schäfer lässt sich die Strafe in allen Einzelheiten berichten. Dann tröstet er.
Bernd weiß nichts von Sexualität. Und er wird auch nichts davon erfahren, bis er fast vierzig Jahre alt ist. Er denkt, was Schäfer mit ihm macht, sei eine besondere Art der Bestrafung für irgendeine von Bernds vielen Übeltaten. Und diese Bestrafung darf nur er, der tío permanente , der oberste Priester, der Papst, wie Schäfer sich inzwischen auch nennen lässt, an ihm ausführen. Niemand sonst.
Oft fragt Schäfer mit ernstem, besorgtem Gesicht nach körperlichen Regungen oder Handlungen. »Hattest du Anfechtungen?« Anfechtungen sind zum Beispiel Erektionen. Wer von den Jungen Anfechtungen hat, geht zu Schäfer. Der weiß zu helfen. Manche drängen sich darum. Manche gehen zu Schäfer, bis sie dreißig sind. Die Pubertät hat bei Bernd noch nicht begonnen, in der Hinsicht hat er nichts zu vermelden. Weiß aber Bernd oder ein anderer Junge nichts zu vermelden, zweifelt Schäfer es an. »Willst du etwa lügen?« Dann geht die Befragung weiter: »Es sind aber einige Herren zu mir gekommen, die gesehen haben, dass du das gemacht hast! Willst du das noch länger abstreiten? Oder soll ich den Onkel Mauk reinholen?«
Wenn man vor lauter Angst sagt, was er hören will – was auch immer das ist –, fordert er auf: »Zeig mal, wie du das gemacht hast!« Und verlangt, dass der Junge es zeigt. Am eigenen oder an Schäfers Geschlechtsteil. Später findet Bernd heraus, dass es anderen ebenso ergeht.
Viele befriedigen sich gegenseitig. Das aber darf Schäfer nicht erfahren. Das ist ausschließlich sein Privileg.
KAPITEL 19
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Das geheimste Verbrechen
1974
Politik: Willi Brandt tritt zurück (Guillaume-Affäre).
Gesellschaft: Volljährigkeit mit 18. Verkehrssünderkartei;
Keine Tabakwerbung mehr im Fernsehen; Zauberwürfel.
Im Kino: Der Exorzist; Jesus Christ Superstar .
Schlager: Waterloo ( ABBA ); Ein ehrenwertes Haus (Udo Jürgens).
TV : Derrick (Horst Tappert); Raumschiff Enterprise. Literatur: Die verlorene Ehre der Katharina Blum (Heinrich Böll);
Archipel Gulag (Alexander Solschenizyn).
Sport: Deutschland Fußballweltmeister.
Spruch des Jahres: Es gibt viel zu tun. Packen wir’s an!
Irgendwann in diesen Jahren planen Wolfgangs Eltern einen Besuch bei ihrem Sohn in der Colonia Dignidad. Der Termin steht fest. Wolfgang wartet. Er weiß, jetzt müssten sie gerade landen. Doch sie kommen nicht. Wolfgang wartet. Viel später kommt ein Brief von seinen Eltern. Er enthält nur einen einzigen Satz: »Wolfgang, warum hast du uns das angetan?« Diesen Brief händigt man ihm aus. Das kommt nicht oft vor. Alle Briefe werden zensiert und nur auszugsweise vorgelesen. Gudrun hält nie einen Brief in der Hand, der an sie gerichtet ist; meist liest Hannchen, die älteste Schwester, den Geschwistern die genehmigten Auszüge vor.
Angetan?, fragt sich Wolfgang. Was denn nur?
Alle paar Jahre bekommt Wolfgang ein Foto von seinen Eltern. Zu Weihnachten, zum Geburtstag, 1976, 1985. Ein älter werdendes Paar ist darauf zu sehen. Was sie verband, ist nicht mehr da. Sie schauen aneinander vorbei.
Nach Jahrzehnten, seine Eltern sind längst beerdigt, wird Wolfgang erfahren, dass seine Eltern wenige Minuten vor dem Abflugeine Mitteilung aus Siegburg erhielten: Sie sollen nicht fliegen. Wer das arrangiert hat, lässt sich heute nicht mehr feststellen.
Wenn Kolonisten Briefe an ihre Verwandten in Deutschland schreiben, entscheidet Paul Schäfer, was darin stehen darf. Die meisten Briefe ähneln sich, geben Auskunft über Ernte und Jahreszeiten. Sonst nichts. Abgeschickt wird nur, was Schäfer für nützlich hält.
In einen Sammelbrief, zu dem alle Wagner-Geschwister in Chile einen Absatz beitragen, schmuggelt Gudrun einen leichten Zweifel hinein.
Liebe Eltern!
Da
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