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Unser Leben mit George

Unser Leben mit George

Titel: Unser Leben mit George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Summers
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Gefühlsschwankungen normal für einen Jungen seines
Alters, oder litt er auf eine Art, die ich nicht nachvollziehen konnte? Ohne
Udis Einfühlungsvermögen, mit dem er mir geholfen hätte, den richtigen Weg zu
finden, musste ich einfach abwarten und sehen, wie es weiterging. Wie andere
Eltern versuchte auch ich, die Flegeleien meines Sohnes zu ignorieren. Ich
versuchte, cool zu bleiben, wenn er mir gegenüber ausrastete oder frech zu
anderen Erwachsenen war. Manchmal gelang es mir auch. Tief in meinem Innersten
hatte ich nur den Wunsch, ihn zu beschützen, schließlich hatte er jeden Grund,
wütend auf die Welt zu sein. Wie er selbst sagte: »Andere Jungs haben richtige
Väter. Ich habe bloß eine Bank auf der Wiese.« Äußerlich aber hielt ich die
Zügel straff und versuchte, ihn nicht zu sehr zu verwöhnen. Ich erinnerte ihn
oft daran, dass wir das Beste aus unserem Leben machen mussten, schließlich gab
es viele Menschen auf der Welt, denen es wesentlich schlechter ging als uns.
    Im Großen und Ganzen schien Joshua sehr
gut mit der Situation fertig zu werden, und ich war unglaublich stolz auf ihn.
Aber je älter er wurde, desto mehr merkte ich, wie sehr ihm ein männliches
Vorbild fehlte. Mir war es wichtiger denn je, eine Vaterfigur für ihn zu
finden. Bisher war ich da nicht sehr erfolgreich gewesen. Vielleicht erwartete
ich zu viel, wenn ich hoffte, jemanden zu finden, mit dem ich ein neues Leben
aufbauen könnte und dem ich so wichtig war, dass er meinen Sohn ebenfalls
akzeptierte. Ich hatte schon Glück gehabt, als ich Anthony kennenlernte, obwohl
es nicht geklappt hatte. Es schien mir sehr unwahrscheinlich, dass ich mich
jemals wieder verlieben würde, und schon gar nicht in jemanden, der »geeignet«
war.
     
    Es war drei Uhr nachmittags, als ich
einige Wochen später am Leicester Square in die U-Bahn der Northern Line stieg.
Ich hatte den ganzen Tag in der Bibliothek in St. James’ Square recherchiert
und war jetzt auf dem Heimweg, um Joshua abzuholen, der um vier aus der Schule
kam. Der Waggon war praktisch leer, und ich setzte mich hin und fing an, meine
Notizen noch einmal durchzugehen. Ich war völlig in meine Arbeit versunken.
    Bald darauf hielt die Bahn an der
Station Goodge Street. Die Tür mir gegenüber öffnete sich, und mehrere Leute
stiegen ein. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich einen grauhaarigen Mann, der etwa
Mitte fünfzig sein musste. Er zögerte einen Moment, dann kam er herüber und
setzte sich neben mich, obwohl es überall reichlich freie Plätze gab.
    Die Türen schlossen sich, und die Bahn
fuhr an. Ich weiß nicht warum, aber aus irgendeinem Grund sah ich seitlich über
meine Notizen hinweg zu ihm hin. Ich erblickte eine sandfarbene Baumwollhose
und zwei blasse, schlanke Hände, die aus den Ärmeln seines zerknautschten
schwarzen Leinenjacketts herausragten. Auf seinem Schoß lag eine große,
ziemlich abgewetzte lederne Satteltasche. Sie war offen und ich konnte
hineinsehen, es sah ziemlich unordentlich darin aus: mehrere Kugelschreiber,
ein großer Schlüsselbund, ein Päckchen Zigaretten und — was viel interessanter
war — ein getipptes Manuskript, mit handschriftlichen Korrekturen in blauem
Kugelschreiber.
    Ich glaube, das war es, was meine
Neugier weckte. Vielleicht war der Mann Schriftsteller wie ich, dachte ich. So
verstohlen wie möglich versuchte ich, einen Blick auf sein Gesicht zu werfen.
Ich sah sein Profil: eine lange Adlernase, gut geformte Lippen und eine
zerfurchte, sorgenvolle Stirn, die zur Hälfte hinter dem silbergrauen gewellten
Haarschopf verschwand. Es war kein besonders schönes Gesicht, aber ich fand es
interessant — nein, mehr noch, anziehend. Es war ein Gesicht, das mir irgendwie
vertraut vorkam, obwohl ich den Mann noch nie gesehen hatte. Ein Gesicht, das
mich ansprach. Instinktiv wusste ich, dass ich dieses Gesicht besser
kennenlernen wollte.
    Plötzlich drehte er den Kopf und sah
mich an, und für einen Moment trafen sich unsere Augen. Ich sah schnell weg,
mir war, als hätte ich mich verbrannt. Denn ich hatte das Gefühl, als hätte der
Fremde mir nicht nur in die Augen geschaut; er hatte in mich hineingesehen.
    Die Bahn hielt in Warren Street. Die
Türen öffneten und schlossen sich. Diesmal bemerkte ich nicht, ob jemand ein-
oder ausstieg. Ich war zu sehr mit meinen Gefühlen beschäftigt. Aus irgendeinem
unerfindlichen Grund, den ich selbst am wenigsten erklären konnte, war ich überzeugt,
dass der Mann, der hier neben mir saß, der Mann war,

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