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Unser Leben mit George

Unser Leben mit George

Titel: Unser Leben mit George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Summers
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an dessen Seite ich alt
werden sollte. Und was noch lächerlicher war: Ich war überzeugt, er dachte
dasselbe von mir.
    Die Londoner Untergrundbahn ist berühmt
für ihre Anonymität. Die Passagiere reden selten miteinander, vielleicht weil
sie so dicht gedrängt stehen wie in einem Viehtransporter. Mit ihren
MP3-Playern verstöpselt oder in die Zeitung oder ein Buch vertieft, tun sie
alle so, als existiere niemand um sie herum. Es kommt fast nie vor, dass jemand
ein Gespräch mit einem Mitreisenden anfängt, und wenn es das Rattern der
Waggons und das Kreischen der Bremsen nicht gäbe, könnte man eine Stecknadel
fallen hören. Deshalb wusste ich, als mein Nachbar plötzlich ein Gespräch
anzuknüpfen versuchte, dass er nicht nur Smalltalk machen wollte. Es hatte
etwas zu bedeuten.
    »Entschuldigen Sie«, sagte er, »aber
wissen Sie zufällig, wo dieser Zug herkommt?«
    Ich war sprachlos. Ich musste zugeben,
wenn das ein Annäherungsversuch sein sollte, dann war es ein ziemlich
miserabler. Denn wen in aller Welt interessiert es, wo eine U-Bahn herkommt?
Das einzig Wichtige ist doch, wohin sie fährt. »Ich habe keine Ahnung«, sagte
ich. Mein Reisegefährte nickte und räusperte sich nervös. Ich wollte das
Gespräch weiterführen und etwas genauso Triviales sagen, wie zum Beispiel:
»Warum wollen Sie das wissen?« Aber ich beherrschte mich. Es war nicht meine
Art, Männer in der U-Bahn anzuquatschen. Eine Frau wie ich tat das einfach
nicht. Dieses war ein völlig fremder Mann, und wer weiß, wahrscheinlich war er
glücklich verheiratet. Oder geistesgestört. Oder ein gewalttätiger
Sexualverbrecher. Vielleicht sogar ein Massenmörder! Oder alles gleichzeitig.
    Schweigend fuhren wir weiter, vorbei an
Euston, Mornington Crescent und Camden Town. Und als wir uns Chalk Farm
näherten, merkte ich, dass er mich wieder ansah. Vor meinem geistigen Auge lief
eine lächerliche Szene ab, wie ein Stück aus einem alten Schwarzweißfilm. Darin
sah ich uns beide an einem Tisch in der Küche eines altmodischen Bauernhauses
sitzen. Wir sprachen nicht, sondern saßen schreibend am Tisch, in einer
Atmosphäre zufriedenen Zusammenseins. Joshua war auch da. Der Mann lächelte ihn
an. Die beiden verstanden sich, genau wie wir beide uns verstanden...
    Der Film riss ab, als der Zug im
Bahnhof Belsize Park einfuhr und mein Filmheld aufstand und zur Tür ging. Ehe
er ausstieg, drehte er sich um und sah mich an. Und statt draußen den Bahnsteig
entlangzugehen, blieb er stehen und starrte mich mit nachdenklichem Gesicht
durch die noch offene Tür an. Es schien, als wolle er mich mit seinem Blick
zwingen, ebenfalls auszusteigen.
    Ich wollte es, mehr als alles andere.
Ich wusste, wenn ich es nicht tat, würde ich es zutiefst bereuen. Dies war
meine letzte Chance, etwas zu tun, und sie lief schnell davon. In ein paar
Sekunden würde sie weg sein.
     
    Ich blieb, wo ich war. Die Türen
schlossen sich. Traurig sah mich der Mann durchs Fenster an. Dann fuhr die Bahn
an, und er verschwand aus meinem Blickfeld.
    Wenn es wirklich mein Schicksal war, meinen
Seelengefährten in einem Zug zu treffen, dann hatte ich die Gelegenheit
verpasst. Ich verwünschte mich, dass ich so konventionell, so hochnäsig, so
feige gewesen war.
    Das nächste Mal würde ich mir die
Chance nicht entgehen lassen.



16.
Kapitel
     
    Später in diesem Sommer lernte ich an einer
Straßenecke Alex kennen, genauer gesagt, an unserer Straßenecke. Ich stand mit
George an seinem Lieblings-Laternenpfahl und genoss die frühe Abendsonne, als
er ein Eichhörnchen entdeckte und sofort eine wilde Verfolgungsjagd aufnahm,
wobei er mich an der Leine mitzog.
    »Entschuldigung!«, sagte ich, als ich
um die Ecke bog und mit einem großen, kräftigen, dunkelhaarigen Mann in einem
Trenchcoat zusammenstieß. Er war gerade aus einem Mercedes-Cabrio gestiegen,
gefolgt von einem großen schwarzen Lurcher; mit den Armen umklammerte er
mehrere volle Einkaufstüten, von denen jetzt eine aufs Trottoir fiel.
    Zwei runde, dunkle und ziemlich
verschmitzte Augen sahen mich an, als ich mich bückte, um ihm beim Einsammeln
der Sachen zu helfen. »Sehen Sie mal! Meine
    Flasche Champagner ist auch
zerbrochen!«, sagte er, als es weiß aus der Plastiktüte tropfte.
    »Sieht mir eher wie Milch aus!«
    Während unsere Hunde die Milch
aufleckten, kamen wir ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass wir Nachbarn
waren. Alex, der als Geschäftsmann nur noch Teilzeit arbeitete, war ein
geschiedener Vater von vier

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