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Unser Mann in London

Unser Mann in London

Titel: Unser Mann in London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Volz
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ist Abfahrt.
    Er vertraute darauf, dass wir die Spielautomatismen in den endlosen Kleinfeldübungen verinnerlicht hatten und es nur darum ging, sie im Spiel abzurufen, uns zu entfalten. Hätte er noch einmal mit tausend Wörtern hundert Details erklärt, hätte er uns nur mit Ideen überfrachtet. Wir hätten zu viele Gedanken, zu viele Vorsätze im Kopf gehabt, die uns allenfalls blockierten.
    In Deutschland ist es üblich, dass der Trainer in der Umkleidekabine unmittelbar vor dem Anpfiff noch einmal eine kurze, motivierende Ansprache hält. In England – und nicht nur bei Wenger, sondern bei allen Klubs, bei denen ich spielen sollte – lief in der Umkleidekabine vor dem Spiel nur Musik. Den Trainer sahen wir eigentlich gar nicht. Er blieb in seiner Trainerkabine.
    «Genieß es», sagte mir irgendjemand, bevor ich hinausging, ich nahm nicht mehr wahr, wer.
    Highbury, unser Stadion, war mit 26000 Zuschauern gut gefüllt. Nach zwei Minuten stand es 0:1 für Ipswich. Ich dachte nicht mehr daran, irgendetwas zu genießen, sondern hoffte, dass ich so wenig wie möglich angespielt wurde. Ich konnte nicht mehr richtig laufen. Die Nervosität war mir in den Rücken gefahren. Vor lauter Aufregung hatten sich meine Rückenmuskeln verkrampft. Steif kämpfte ich mich über den Platz.
    Das passierte mir nicht zum ersten Mal. Der abrupte Sprung von zwei- auf siebenmal Training die Woche hatte mir einen neuen Körper gegeben, ich war plötzlich breit, mit voll definierten Schulter- und Oberschenkelmuskeln. Aber die Nerven legten den Athletenkörper gelegentlich lahm.
    Wir griffen an. Kurze, schnelle Pässe sausten über den Rasen, ich bemühte mich mitzukommen und hatte nur noch ein Ziel: Bloß keinen Fehler machen. Quasi mit dem Halbzeitpfiff erzielten wir das 1:1. Die Halbzeit wurde zur nächsten großen Überraschung.
    Wenger redete nicht. Er stand zwischen uns und wartete, sicher fünf Minuten, bis wir uns einigermaßen gesammelt hatten. Fußballer sind es gewohnt, dass der Trainer in die Halbzeit stürmt und Kritik, Anweisungen, Verbesserungsvorschläge wie ein tobender Wasserfall aus ihm herausbrechen. Der einzige Effekt solcher Auftritte, hatte Wenger erkannt, war allerdings, dass der Trainer sich selbst abreagierte. Die Spieler konnten den Schwall gar nicht aufnehmen. Also wartete er fünf Minuten, um dann sachlich, deutlich drei, vier Details anzusprechen, die wir im Spiel verändern oder verstärken sollten. Heute hat ein innovativer Trainer wie Thomas Tuchel vom FSV Mainz 05 diese Halbzeittaktik sogar noch verfeinert. Wie Wenger lässt er sein Team fünf Minuten in Ruhe und zeigt den Spielern dann auf Video drei Schlüsselszenen aus der ersten Halbzeit. Gehirnforscher haben Tuchel erklärt, dass der Mensch Bilder viel leichter verinnerlicht als Worte.
    Im November 2000 gegen Ipswich Town bekam ich nicht viel Zeit, die Halbzeiterkenntnisse umzusetzen. Nach einer Stunde wurde ich ausgetauscht. Mit dem schäbigen Gefühl, mich selbst enttäuscht zu haben, ging ich vom Rasen. In der vorletzten Spielminute fingen wir uns das 1:2 ein. Ich wurde von einer Sehnsucht gepackt, die mich während meiner Fußballkarriere noch öfters überkommen würde: Warum konnte ich nicht weniger nachdenken? Wenn man weniger grübelte, stellte ich mir vor, würde man auch nicht so leicht nervös werden.
     
    Der Trainer schien nicht sehen zu wollen, was ich gespürt hatte: dass ich schlecht gespielt hatte. Er rief mich sporadisch immer wieder zum Training der ersten Mannschaft hinzu. Er nahm mich zu den Champions-League-Spielen nach Rom und Leverkusen mit. In der hierarchischen Welt des Fußballs definieren solche kleinen Gesten deinen Status. Ich durfte nun durch den Eingang der ersten Mannschaft ins Trainingszentrum gehen; normale Jugendspieler mussten den Hintereingang benutzen. Wenn ich irgendwelche Verspannung oder Schmerzen spürte, behandelte mich der Physiotherapeut der ersten Mannschaft. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich dazugehörte. Ich saß zwischen Thierry Henry, Dennis Bergkamp, Patrick Vieira und dachte: Sie sind Weltmeister, Weltstars. Und du bist der kleine Junge aus Bürbach. Ich traute mich nie, von mir aus ein Gespräch mit einem von ihnen zu beginnen.
    Gleichzeitig wurde mein Verlangen immer größer, einmal wirklich dazuzugehören, es bei Arsenal und nur bei Arsenal zu schaffen. Der Verein erschien mir das Maximum des Fußballs. Ich erlebte, wie dieser gute, alte englische Klub unter Wenger als Vereinte

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