Unser Mann in London
Wirklichkeit bekam ich Hunger auf Hamburger.
Als ich nach 21 Haltestellen in South Kensington ausstieg, kreischten die deutschen Mädchen: «Oh nein, wie peinlich, er hat alles verstanden!» Ich hatte ihnen auf Deutsch noch einen schönen Tag gewünscht.
Westminster Tutors war eine Privatschule, wobei ich mich fragte, ob sie es mit dem Begriff «privat» nicht etwas übertrieben. Die Unterrichtsräume waren in einer ursprünglichen Privatwohnung in einem der prachtvollen viktorianischen Reihenhäuser Kensingtons untergebracht, und ich hatte das Gefühl, die Familie, die hier mal wohnte, wäre nur kurz in die Ferien verreist und wir hätten mal schnell die Schultische hineingeschoben. Der Mathematiksaal war noch als Wohnzimmer zu erkennen, der Französischraum als Kinderzimmer: die Innenarchitektur, Teppiche, die Lampen, alles erinnerte noch an eine Privatwohnung. Mein erster Besuch bei einem Londoner Zahnarzt nahm mir schließlich meine Verwunderung: Er betrieb seine Praxis ebenfalls in einer ursprünglichen Privatwohnung, das Wartezimmer im Wohnzimmer, der Operationssaal im Schlafgemach. Das war offenbar so üblich in London.
Die englischen
Advanced levels
, das Pendant zum deutschen Abitur, hatten den für mich unschätzbaren Vorteil, dass die Schüler zum Teil selbst bestimmen können, wie anstrengend es wird. Anders als in Deutschland, wo bis zum Abitur eine Vielzahl von Fächern Pflicht sind, müssen die Schüler in England nur drei Fächer belegen. Nur wer will, bestreitet in einem vierten oder gar mehr Fächern die A-levels. Ich entschied mich für Mathematik und Französisch. Mit Biologie, meinem dritten Wahlfach, würde ich erst später anfangen; auch solch eine zeitliche Aufsplittung ist im englischen Abitur möglich.
Mittwoch war trainingsfrei, und so wurde er zum anstrengendsten Tag. Ich erhielt drei Stunden Einzelunterricht Mathematik und nach einer Pause drei Stunden Französisch bei Westminster Tutors. Mir fehlten die Mitschüler. Nie konnte ich schwätzen, nie konnte ich in meinen Tagträumen verschwinden; immer war der volle Fokus des Lehrers auf mich gerichtet. Niemand ist gefangener als ein Einzelschüler.
Mein Mathelehrer James war Ende 20 und schon Stellvertretender Direktor der Schule. In England, lernte ich, wurde bei der Jobvergabe viel weniger Wert auf formelle Kriterien wie Alter oder Ausbildung gelegt als in Deutschland. Man konnte Kunstgeschichte studieren und später als Marketingdirektor eines Fußballklubs arbeiten, man konnte sich zum Soldaten ausbilden lassen und als Investmentbanker in der City Karriere machen. Aber die Erkenntnis erleichterte es mir leider nicht, meinen formellen Abschluss, die A-levels, zu schaffen.
James versuchte, mir Statistik, Mechanik und die Lehre von der Schwerkraft beizubringen. Doch das Problem war erst einmal kein mathematisches, sondern, dass er mir all diese Formeln und Gesetze in einer Sprache erklärte, die ich nicht besonders gut verstand. Im Französischunterricht war es noch extremer: Odille, die Lehrerin, erklärte mir Französisch auf Englisch, und manchmal verstand ich das eine so wenig wie das andere. Gegen 15, 16 Uhr, in der fünften, sechsten Stunde, bat ich immer wieder, kurz auf Toilette gehen zu dürfen. Ich stand kurz davor, einzuschlafen beziehungsweise in Ohnmacht zu fallen, wenn ich mich nicht drei Schritte bewegte.
Mittlerweile war ich der einzige von den Arsenal-Jungs, der noch zur Schule ging. Das reichte schon, um in der Umkleidekabine als
brainy
zu gelten. Bis 17 Jahre war zumindest die Englischklasse für die ausländischen Jugendfußballer jeden Montag nach dem Training obligatorisch gewesen, aber sobald der Zwang wegfiel, blieben sie dem Unterricht fern.
Ich hatte den Vergleich mit meinen Freunden und Anneke in Siegen, die alle das Abitur machten, und ich besaß den nicht abzustellenden Drang, die Dinge zu Ende zu bringen. So kämpfte ich mich weiter durch Mathe und Französisch, ohne mich zu fragen, wofür oder warum. Da war nur dieses diffuse Gefühl meiner Kindheit: Bildung ist das Wichtigste.
Gemeinsam mit Danny, Ingi, Sebi Svärd, Seb Larsson und Anneke (von links) beim Essen – ausnahmsweise nicht im
Ask
.
Zu Hause bei den Flints suchten die Arsenal-Jungs ihrerseits nach Beschäftigung für die langen Stunden nach dem Vormittagstraining. SkySports schauen war immer eine Möglichkeit, selbst wenn dort nur Darts lief; Billard im Weaver eine gute Alternative. Und irgendwann bekamen wir dann
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