Unser Mann in London
Nationen wiedergeboren wurde; eine Mannschaft mit Spielern aus der ganzen Welt, die durch die eine Idee vom schnellen Passspiel verschmolzen wurden. Nicht wenige Kommentatoren beklagten den Verlust einer lokalen Identität, weil Arsenal oft nur noch mit einem einzigen Engländer in der Elf auflief. Doch ich habe Arsenals Internationalität immer nur als passendes Symbol einer Stadt gesehen, in der längst die ganze Welt zu Hause ist. Und beide, London wie Arsenal, sind dabei unbewusst oder bewusst doch noch immer essenziell britisch geblieben. Der unbändige Vorwärtsdrang in Arsenals Spiel, die Achtung von Etiketten, wie dem Gegner nach dem Spiel die Hand zu reichen oder sich bei den Fans für die Unterstützung zu bedanken, der brachiale Humor in der Umkleidekabine, all das überdauert, auch wenn bei Arsenal nun ungekühltes Wasser statt sechs Liter Bier getrunken wird.
Ich besuche den Klub noch immer gerne, wenn ich in London bin. Vor einigen Wochen humpelte ich mit Krücken ins Trainingszentrum Colney, ich hatte mir im Training bei St. Pauli das Schienbein gebrochen. Arsène Wenger hielt an, um mit mir zu plaudern, und dann stand plötzlich Shaun vor mir. Ah ja, ich hätte mir ja das Bein gebrochen, genau wie Arsenals Aaron Ramsey, was machten die Ärzte bei mir, würden sie die Schiene rausnehmen oder drin lassen, ah ja, rausnehmen, gut, denn wenn man sie drinnen ließe, könnte zwar das Metall nicht brechen, aber dafür der Knochen umso leichter, aber das dürfe ich bloß nicht Ramsey erzählen, der flippe sonst ja aus vor Angst, es spiele sich nämlich alles im Kopf ab mit diesen Verletzungen.
Ich weiß nicht, wie lange Shauns Vortrag über Schienbeinbrüche und ihre Folgen dauerte. Aber die Begegnung war bezeichnend dafür, welche Arbeitskultur Arsène Wenger in den Klub gebracht hat. Shaun ist nicht Arsenals Doktor oder der Physiotherapeut. Er ist der Hausmeister.
Junger Jubel: Wir haben den FA -Youth-Cup gewonnen.
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Fünf Theoretisch erwachsen
Jeden Mittwoch begab ich mich auf Weltreise. Ich nahm die U-Bahn zur Schule in South Kensington. Zunächst war noch die Weite und Ruhe der Vorstädte in der Piccadilly-Linie zu spüren, die wenigen Passagiere nahmen in großzügigem Abstand zueinander Platz. Nach Wood Green füllte sich der Zug langsam, und spätestens ab King’s Cross war die ganze Welt in einem Waggon zu Hause. Die Leute nutzten das Zugabteil als Büro, Pub, Laufsteg, Wohnzimmer, Schlafzimmer.
Eine afrikanische Muslima mit rotem Lippenstift und schwarzem Kopftuch las eine Anleitung
Wie man einen Wahlkampf gewinnt;
es schien ein Aufsatz der einfachen Wahrheiten: «Du musst sehr organisiert sein», stand im Untertitel. Neben ihr, sein Körper etwas zu breit für den Sitz, döste ein Rentner. Er hatte buschige Haare; zumindest in den Ohren. Vor ihm klammerte sich eine brünette Jugendliche an die Haltestange, ihre Füße steckten in glänzend weißen Schuhen mit riesigen Absätzen. In der Mode hegt London einen klaren Hang zum Krassen. Die englischen Modemacher wie Vivienne Westwood oder Paul Smith verwenden in ihren Entwürfen das gesamte Spektrum der Farben in all ihrer Grellheit. Manchmal kommt es mir vor, als wollten sie mit ihrer Kleidung die graue Eintönigkeit der Londoner Häuserfassaden aufheben.
Ich blickte durch das Abteil: ein Schwarzer im Anzug, zwei bleiche Teenager mit Einheitsfrisur (Hauptsache kurz), ein schlaksiger Chinese, auf dem Kopf eine Baseballmütze mit der Aufschrift «Der gefährlichste Mann der Welt». Menschen aus über 160 Nationen leben in dieser Stadt. Ein paar deutsche Mädchen auf Klassenfahrt piepsten: «Schau mal, der ist doch süß!», im Glauben, niemand im Abteil würde sie verstehen. «Aber, oh Gott, der trägt ja Jogginghosen», raunte eine von ihnen.
Ab Leicester Square standen die Fahrgäste Körper an Körper. Sie legten die phantastischsten Verrenkungen und stoischsten Gesten hin, um trotzdem weiterzulesen. Es wurde alles gelesen, was gedruckt wird, von der
Sun
über den Werbeprospekt für Beinenthaarung bis zu Romanen. Wer sich unterhielt, tat dies leise, rücksichtsvoll. Der säuerliche Geruch von in billigem Fett gebratenen Hamburgern zog durch den Raum und zeugte von der verbreiteten Unart, im Gehen oder auf der Fahrt zu essen. In London, der Stadt, die niemals stillsteht, haben viele Bewohner verlernt, sich für die alltäglichen Dinge wie Essen Zeit zu nehmen. Der Geruch des Bratfetts war ekelhaft, sagte ich mir. In
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