Unser Mann in London
der Referee, Schiedsrichter?
Der
Reverend
, erklärte Gary. Der Klubpfarrer.
So einen Posten hatte ich in diesem Klub der fluchenden Männer nicht unbedingt erwartet.
Rev Gary redete mit uns mehr über Fußball als über Gott. Er war wie so viele englische Fußballfans ein wandelndes Geschichtsbuch. «1959, als wir gegen Wolves spielten», fing er an und warf ein: «Entschuldigung, dass ich so alt klinge», ehe es langweilig werden konnte.
«Weißt du eigentlich, dass ich einmal nur ins Stadion ging, um deinen Landsmann Bert Trautmann zu sehen, Moritz? Er war so ein großartiger Torwart, Chelsea gegen Manchester City sah ich, es muss 1958 gewesen sein.»
«Du hast Eintritt bezahlt, um Chelsea zu sehen?»
«Nein.»
«Aber das hast du doch gerade gesagt.»
«Ich habe Eintritt bezahlt, um Manchester City und Bernd Trautmann zu sehen.»
Gary hatte wachsame Augen, die besonnen auf einem ruhen konnten. Er kam, um mit den Spielern zu reden, er war da, um uns zu unterstützen, falls wir über unsere Sorgen sprechen wollten. Nie versuchte er, uns seine Seelsorge oder seinen Gott anzupreisen. Er hatte etwas durch und durch Unaufdringliches.
Ich glaubte, ihn nach einiger Zeit ganz gut zu kennen. Aber ich war dann doch überrascht, als ich zum ersten Mal seinen Gottdienst besuchte. Er redete dort genauso wie freitags beim Fußballklub. Gary predigte in der Saint-Matthews-Kirche von alltäglichen Dingen wie auch von
unseren Jungs
, die gegen Manchester United couragiert mitgehalten hätten. Plötzlich, beiläufig, war er dann bei Gott, bei der Ruhe, die es einem Menschen gibt, wenn er sich auf seinen Nächsten verlassen kann, ob dies nun der Mittelfeldpartner im Spiel gegen United, die Großmutter zu Hause oder Gott sei.
So schaffte er es, seiner Gemeinde näherzubringen, welche Rolle Gott in unserem Alltag spielt; so gelang es ihm, mich für Gott zu begeistern. Als er im Gottesdienst ausrief: «Wie gut tat es, Chelsea letztes Wochenende einen Punkt abzunehmen!», fragte ich mich allerdings: Wo bleibt die Nächstenliebe, Gary?
Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der Fulham jeden Freitag den Klubpfarrer zu uns bat, schickte der Verein uns eines Mittwochs zum Pferderennen statt zum Training. Das eine wie das andere mochte eine herrlich altmodische englische Fußballtradition sein, aber es gab der Mannschaft etwas, was nicht weniger wichtig als die hochwissenschaftliche Trainingslehre anderer Klubs war: Menschlichkeit. Dass der Besuch beim Renntag in Cheltenham ausartete, ist dann wieder eine andere Geschichte.
Wir tranken ein paar Bier (ich hätte viel für eine Milch mit Tee gegeben) und wetteten auf die Pferde. Nach drei, vier Rennen schien etlichen ausländischen Profis das Ritual in eine öde Wiederholung abzugleiten. Die Engländer im Team sagten, jetzt gehe es doch erst richtig los. Sie orderten Champagner und steckten Löffel in die Gläser, damit sich die Kohlensäure verflüchtigte. So ließ sich schneller mehr trinken. Unser Ersatztorwart Norman führte seine Spezialität auf: Er sang lauthals Lieder wie
I am singing in the rain
. Mit heruntergelassener Hose.
Am frühen Nachmittag wurde Torwart Edwin van der Sar unruhig. Sein Sohn hatte Geburtstag. Er wollte so gerne bei seiner Feier dabei sein. Beim Cheltenham Festival komme man zum ersten Rennen und bleibe bis zum letzten, entgegneten die Engländer. In Cheltenham trank man vom ersten bis zum letzten Rennen, hieß das übersetzt.
Edwin, ich und ein paar andere ausländische Spieler überlegten, ob wir ein Taxi nehmen sollten. Von Cheltenham nach London waren es gut 150 Kilometer. Das würde uns teurer als ein Flug von London nach Moskau kommen. Und gar nicht daran zu denken, wie ein frühes Abhauen dem Teamgeist zusetzen würde.
Nach fünf Stunden auf der Rennbahn fuhren wir schließlich gegen 18 Uhr geschlossen zurück. Nach London waren es knapp zwei Stunden. Im Bus wurde laut gesungen, der Assistenztrainer fuhr mich an, warum ich nichts mehr trinke, und Edwin schaute mit starrem Blick aus dem Fenster.
Als der Klub uns ein anderes Mal mitteilte, die Mannschaft würde für ein paar Tage nach Dubai fliegen, ahnte ich schon, was für ein Ausflug dies werden würde. Dann jedoch musste der Trainer kurzfristig ins Krankenhaus. Eine der Metallplatten, die nach dem Autounfall in seinen Körper eingesetzt worden waren, rebellierte und musste schnellstens herausoperiert werden. Dubai wurde abgesagt. Aber wir durften stattdessen fünf Tage in den
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