Unser sechzehntes Jahr (German Edition)
dauerte, bis aus schüchternen Wangenküssen und Händchenhalten mehr wurde, denke ich oft an die Anfänge unserer Liebe zurück. Armin hatte es sich zur Aufgabe gemacht, mir den Himmel zu Füßen zu legen. Er war ein Träumer mit der Vision, die Welt zu verändern und sah in mir eine ebenbürtige Begleiterin im Kampf gegen den Durchschnitt. Noch immer erkenne ich den Träumer hinter den blasser gewordenen Konturen seiner Persönlichkeit. Unter anderen Umständen könnte man sagen, dass er mit zunehmendem Alter einfach ruhiger geworden ist. Mit sich im Reinen. Und doch weiß ich, dass es unser gemeinsames Schicksal ist, das ihn die alten Illusionen vergessen ließ.
Wie viel Zeit ist seitdem vergangen? Wie viele Worte sind gefallen und wie viele unausgesprochen geblieben? Ist es die Zeit, die vergeht, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob man bereit ist, ihr zu folgen? Oder sind es wir selbst, die zu schnell vorangehen, obwohl die Zeit ihren Punkt für Veränderungen noch nicht erreicht hat?
So lange ist es her und noch immer scheint es so vertraut. So nah. Beinahe greifbar.
Ein junges Pärchen schiebt sich an mir vorbei und reißt mich aus den Gedanken. Scheinbar durchquere ich den Park zu langsam für ihren jugendlichen Übereifer. Ich frage mich, wie man sich so innig umschlingen und dabei trotzdem noch fortbewegen kann. Er flüstert ihr etwas ins Ohr. Sie wirft lachend den Kopf in den Nacken. Vermutlich war es nicht mal etwas Witziges. Aber das muss es auch nicht sein.
Kapitel 4 : Nathalie
Er hat nicht viel Ähnlichkeit mit dem Foto aus Fionas Tagebuch. Kein Wunder. Es ist über sechzehn Jahre her. Die Anhöhe, die eine Bühne darstellen soll, ist ebenso klein wie das Publikum. Die Musik laut und alles andere als gut. Es ist ihr peinlich, hier zu sein. Vom Sänger mit der rauchigen Stimme verdeckt, kann Nathalie nur hin und wieder einen Blick auf ihn werfen. Er steht im Hintergrund, scheinbar eins mit seiner ehemals roten E-Gitarre.
Beinahe bereut sie es inzwischen, den Dachboden nach Indizien für die Existenz ihrer Schwester durchwühlt zu haben. Ihre erste Handlung nach dem Rügen-Urlaub, die ihr ein unscheinbares Notizheft in die Hände gespielt hatte, mit Einträgen von 1993 bis 94, unter anderem über einen geheimnisvollen Theo Mehler.
Zwischen grölenden Bierbäuchen und ein paar jubelnden Frauen im Publikum, allesamt mindestens zwanzig Jahre älter als Nathalie, fragt sie sich jedoch, ob es klug war, direkt dem ersten Indiz nachzugehen.
Sie fühlt sich unwohl. Vielleicht hätte sie doch Jenny bitten sollen, sie zu begleiten. Sie wollte niemandem davon erzählen, bis sie sich nicht absolut sicher war, den richtigen Theo gefunden zu haben. Das ist ihr Plan. Ihre Suche nach dem Geheimnis um ihre Schwester. Doch in dem schummrigen Café, das eher an eine Kneipe erinnert, fühlt sie sich selbst am späten Nachmittag fehl am Platz.
Sie umklammert ihre Cola. Was soll sie machen, wenn das Konzert zu Ende ist? Einfach zu ihm gehen? Sie hat es sich zumindest fest vorgenommen. Nicht umsonst hat sie ihn über das Internet ausspioniert, um letztendlich auf der Website seiner Band zu landen.
Das Pärchen am Tisch neben ihr singt lauthals mit. Die zweite Zugabe. Baby, lass uns nichts mehr sagen. Es wird Zeit, dass wir was wagen. Der Sinn der Texte will sich ihr nicht so recht erschließen. Doch es ist egal. Ihre Aufmerksamkeit gehört in erster Linie dem E-Gitarristen, der sich, wie der Rest der Band, mit einer kurzen Verbeugung langsam von der Bühne stiehlt.
Jetzt, denkt sie, jetzt musst du aufstehen. Beeil dich, bevor er weg ist. Es ist ihr peinlich, als Einzige im Raum zur Bühne zu laufen. Sie kommt sich vor wie ein Groupie, das sich in der Band geirrt hat. Aber es hilft nichts. Sie muss es tun.
Er steht neben einer Hintertür, in eine Unterhaltung mit zwei anderen Typen aus der Band vertieft.
"Hallo. Bist du Theo?" Ihre Stimme zittert.
"Kommt drauf an, wer das wissen will." Er mustert sie, während er einen Schluck aus der Bierflasche nimmt. Er ist groß. Größer als sie von ihrem Platz aus vermutet hätte. Sein dunkelblaues Hemd spannt über dem kräftigen Oberkörper. Sein schwarzes Haar fällt in kleinen Locken auf die Stirn. Er sieht jünger aus. Zumindest nicht wie 33. Das Alter, das sie anhand der Tagebucheinträge errechnet hat.
"Ich bin Nathalie", ist die einzige Antwort, die ihr einfällt.
"Schön, Nathalie. Und was willst du? Ein Autogramm? Foto? Ich glaube, dann muss ich
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