Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)
ich das gewesen sein soll. Manchmal verstehe ich mich selbst anhand von etwas Geschriebenem nicht. Obwohl ständig irgendjemand behauptet, dass Schreiben eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich sei. Mein eigenes Ich hat aber Schwierigkeiten, zweifelt an seiner Identität, und wenn ich mich damit auseinandersetze, dann kommt etwas Geschriebenes dabei heraus, das ich einfach scheiße finde.
Ich schreibe, damit ich Situationen noch mal in einen anderen Kontext setzen und die Geschichte so erzählen kann, wie ich das möchte. Natürlich lüge ich. Denn die Wirklichkeit hält Komik oder Tragik immer nur in Teilstücken bereit, und den Rest, das, was noch hätte passieren können oder müssen, das füge ich dann einfach hinzu. Beim Schreiben schaffe ich mir eine Parallelwelt, mein eigenes kleines Universum, in dem diese Geschichten passieren dürfen. Weil in der «echten» Realität dafür kein Platz ist.
Jetzt brauche ich noch einen Text für die Lesebühne, und leider habe ich nichts erlebt, was erzählenswert wäre, ich bin langweilig, ich habe ein langweiliges Leben. Ich setze mich ins Wohnzimmer, irgendwas wird hier schon passieren. Ann-Kathrin kommt vorbei, einen Kürbis in der einen, ein Messer in der anderen Hand. Sie setzt sich zu mir und fängt an, den Kürbis zu zerhacken. Giovanni läuft vorbei, bleibt dann stehen und brüllt: «Den wollten wir für Halloween aufheben!» «Du bist fett», sagt Ann-Kathrin. «Apropos Fett», mischt sich jetzt Klaus ein, der gerade vom Einkaufen wieder zurück ist, «ich glaube, man könnte das Fritteusenfett mal austauschen.» «Wir haben eine Fritteuse?», fragt Giovanni. Während sich dieses Gespräch wie ein Kreisel um die eigene Achse dreht, kommt Thomas herein.
Ich protokolliere das ganze Geschehen und freue mich ein ums andere Mal, dass ich hier lebe. Das sind Geschichten, die kaum noch übertrieben werden können, weil sie schon in der Realität merkwürdig sind.
Thomas taumelt, fällt hin, steht wieder auf und schwenkt eine Flasche Sambuca. «Isch maaaach jez Fondue», sagt er zu seiner Flasche. Dann holt er umständlich die fünf Fondues, die wir besitzen, vom Regal und stellt sie auf den Tisch. «So, Bente, jez drinken wir erzt mal einn!», sagt Thomas, und dann trinken wir einen. In meinem Mund wird es warm, dann in der Speiseröhre, dann in meinem Bauch. «Wasss machst’n da?», fragt Thomas, und ich antworte, dass ich einen Text schreiben muss, jetzt nur noch zwei Stunden Zeit habe und ihn und die anderen beobachte. Er sagt, ich solle einen Text über ihn schreiben. Das sagt er jedes Mal, wenn er betrunken ist. Und einmal habe ich ihn sogar in einen Text eingebaut. Ich musste seinen Namen ändern, und auch, dass er mein Mitbewohner ist. Was dazu führt, dass ich ihn jetzt einfach einbaue und das Ding konsequent durchziehe. Ist mir egal. Ich brauche schließlich einen Text. Das passiert übrigens öfter, dass mir Leute sagen, ich solle doch über den
einen
Menschen, meistens sie selbst, oder die
eine
Situation «mal einen Text schreiben». Wenn ich versuche, höflich zu sein, dann lächle ich und sage: «Ja, klar, mach ich.» Mach ich nie. Weiß ich. Wenn ich nicht nett sein will, und das ist so gut wie immer der Fall, dann gucke ich genervt, verdrehe die Augen und merke an, dass ich keine Lust habe, irgendetwas aufzuschreiben, was so situationskomisch ist, dass es niemand verstehen wird. Oder überhaupt hören/lesen möchte. Es scheint unglaublich «in» zu sein, irgendwas mit Schreiben zu tun, aber im Endeffekt ist es eine Sache, die aus Buchstaben und Wörtern besteht, und dann noch ein bisschen Handwerk und schon ist der Text da. Kann jeder.
Inzwischen ist auch Rocco im Wohnzimmer angekommen, Ann-Kathrin verschwindet samt Kürbis in die Küche, Thomas überredet Rocco, ebenfalls mit ihm zu trinken. Rocco hat viel erlebt. Vor allem Geschichten, von denen ich immer gedacht habe, sie passieren nur Menschen, die ich nicht kenne. Er hat Ferienreisen nach Lóret del Mar gemacht, hat sich aus Katzenfell einen Hut geschneidert und vertickt manchmal Sachen, die vom LKW gefallen sind. «Erzähl mir eine Geschichte», sage ich zu ihm, und schon fängt er an zu reden. Ich höre zu und schreibe alles auf. Als Rocco achtzehn Jahre alt war, hatte er eines Nachmittags Sex mit seiner damaligen Freundin. Und während sie so dabei waren, kam plötzlich der Vater der Freundin mitsamt dem Hund der Familie ins Zimmer, aber anstatt auszurasten oder peinlich berührt das
Weitere Kostenlose Bücher