Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)
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In der Autoindustrie, damals das Herz der US -Industrie, ereignete sich ein Beinahe-Infarkt. Die Firmen senkten ihren Auto-Ausstoß von 440 000 Einheiten im August des Jahres 1929 auf 319 000 im Oktober desselben Jahres, im November rollten noch 170 000 Autos von den Bändern, im Dezember nur noch 92 000. Die Arbeitslosigkeit erreichte 25 Prozent, aber auch von denen, die zur Arbeit gingen, besaß kaum noch jemand einen vollwertigen Arbeitsplatz. Experten gehen davon aus, dass auf dem Höhepunkt der Großen Depression rund die Hälfte des Arbeitskräftepotentials in den USA stillgelegt war.
Eine staatliche Arbeitslosenversicherung gab es damals nicht, sodass mit dem Gespenst der Nutzlosigkeit auch Hunger, Krankheit und nicht selten Gewalt Einzug in den Familien hielten. Es gab in den USA Hungertote. Nie war Amerika weiter vom » American Dream « entfernt als in jenen dunklen Jahren. Es entstanden Elendsviertel, die nach dem amtierenden Präsidenten, Herbert Hoover, » Hooverville « genannt wurden.
Um der Deflation, die im Jahr 1932 knapp zehn Prozent betrug, zu entgehen, gaben einige Städte, darunter Salt Lake City und Minneapolis in Ohio, eine frei erfundene Währung heraus. Der » Vallar « sollte den Bürgern die alte, verloren gegangene Stabilität zurückgeben. Der » Progressive Independent « , eine Zeitung jener Jahre, forderte, was seine Leser auch forderten: » Ein neues Wirtschaftssystem: für das Wohl der Menschen. Menschen zählen mehr als Geld. «
Man musste kein Linker sein, um so zu denken. Dem kapitalistischen System, das war offensichtlich geworden, fehlte ein Mechanismus, um die von Hause aus schwankenden Arbeits-, Finanz- und Warenmärkte zu stabilisieren. Man kann auch sagen, dem System fehlten Anstand und Manieren. Es war herrisch, launisch und gemeingefährlich.
Die Gleichgewichtstheorien, die damals das Denken nahezu aller Klassiker beherrschten, hatten sich als falsch erwiesen. Das System funktionierte, aber es funktionierte wie eine Starkstromleitung ohne Sicherung. Das System besaß nicht hier und da seine Risiken. Es selber war ein systemisches Risiko.
Damit stellte es das bürgerliche Lebenskonzept in Frage, das auf Normalität und Stetigkeit gründet. Diese Normalität will der Mensch nicht nur, er braucht sie auch. Sie ist die Schwerkraft seines Lebens, die Grundgewissheit, auf der seine individuelle Biografie sich erst entfalten kann. Nur das möglichst schicksalsneutrale Verhalten der ihn umgebenden Gesellschaft erlaubt es ihm, sein eigenes Schicksal zu gestalten. Wenn um ihn herum alles schwankt, die Welt von morgen auf abrupte Weise nicht mehr die Welt von gestern ist, die vielen kleinen Normalitäten sich auflösen, ist er selbst zum Spielball eines großen Schicksalsdramas geworden.
Er muss nun das Leben der anderen leben. Er schwankt, wie die Welt auch schwankt. Die Gesellschaft, die der französische Soziologe Pierre Bourdieu als Zusammenschluss von Menschen charakterisiert, deren Leben sich nach Regelmäßigkeiten abspielt, die ihnen in Fleisch und Blut übergegangen sind, verliert ihre Konsistenz. Wer seinen Arbeitsplatz, seine Ersparnisse, seinen bisherigen Platz in der Gesellschaft einbüßt, wird dazu verdammt, eine Biografie des Prekären zu leben. An die Stelle der Gewissheiten und Regelmäßigkeiten treten die explosiven Gase des Flüchtigen. Sie sind durch politische Hassprediger, wie sich bald zeigen sollte, schnell entflammbar.
In Europa ergab sich eine sehr ähnliche Dramatik wie in Amerika. Binnen weniger Jahre verdreifachte sich die Arbeitslosigkeit. Waren 1929 erst 4,5 Millionen ohne Arbeit, galten 1932 bereits 11,5 Millionen Menschen als arbeitslos. Dem wirtschaftlichen Niedergang konnte sich kaum ein Unternehmen entziehen. Es beschleunigte sich der Konzentrationsprozess, denn vor allem die kleinen und mittleren Betriebe waren nicht in der Lage, den plötzlichen Nachfrageausfall zu verkraften. Sie brachen zusammen oder schlüpften ermattet unter das Dach eines Großunternehmens.
Bereits im März 1929, also kurz vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, erwarb beispielsweise General Motors Anteile an der von Adam Opel in Rüsselsheim gegründeten Autofirma. Im Krisenjahr 1931 war es mit der Selbständigkeit vorbei. Opel befand sich nun zu 100 Prozent in amerikanischer Hand.
In die Bankenwelt griff der Staat, so wie heute auch, stützend ein. In den USA führte die Notenbank, als sich im Dezember 1930 die Bankzusammenbrüche häuften, durch Aufkäufe
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