Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)
angetrieben wird, dass Erfindungen die Unternehmen aufsteigen oder fallen lassen, dass der Fortschritt darin besteht, die Gegenwart in Frage zu stellen. Dieser Kapitalismus, das schlug sich 1912 in den Schriften Schumpeters nieder, war eben nicht ein System, das nach Gleichgewicht strebte, sondern nach Zerstörung und Überwindung von Gegenwart: » Man vermehre die Postkutschen, so viel man will, nie erwächst eine Eisenbahn daraus. «
Die Bevölkerung konnte nun wachsen, ohne damit, wie in den Jahrhunderten zuvor, Hungersnöte zu riskieren. Auch das muss dem neuen Regime gutgeschrieben werden. Vor 1750 führte das Wachstum der Bevölkerung zu einem Sinken des Lebensstandards, weshalb der führende Ökonom der damaligen Zeit, Thomas Robert Malthus, eine jedermann einleuchtende Verelendungstheorie entwarf. Das » Gastmahl der Natur « , so meinte er, werde nicht ausreichend gedeckt sein, um eine wachsende Weltbevölkerung zu ernähren. Er sagte ein Massensterben voraus.
1798, also zu jener Zeit, als Malthus seine Gedanken verfasste, lebten in Europa rund 190 Millionen Menschen, rund 25 Prozent der heutigen Population. 80 Prozent aller Erwachsenen waren mit der Produktion der zum Überleben nötigen Lebensmittel beschäftigt. Der Rest waren Händler, Handwerker und der Arbeit entrückte Mitglieder der weltlichen oder geistlichen Oberschicht.
Die frühen Kapitalisten machten einen Strich durch die Malthus’sche Rechnung. Während der Industriellen Revolution beschleunigte sich das Bevölkerungswachstum von zuvor 0,5 Prozent pro Jahr auf schließlich 1,5 Prozent pro Jahr – und dennoch stieg der Lebensstandard. Nach zehn Jahrhunderten ohne große Veränderung im Wohlstandsniveau des durchschnittlichen Menschen brachte das Unternehmertum in Zeiten der Industriellen Revolution den zwölffachen Anstieg der Wirtschaftsleistung in nur zwei Jahrhunderten. Es war, wie der Wirtschaftstheoretiker Alfred Marshall feststellte, nicht allein der Erfindergeist, der dieser Zeit ihren Stempel aufdrückte, sondern auch » das System großer Geschäftsbetriebe, die von den besonderen Fähigkeiten kapitalistischer Unternehmer gelenkt wurden « .
Gewerbetreibende und Händler gab es vorher, aber der Fabrikant betrat erst jetzt die Bühne. Die erste Generation des Unternehmertums in Deutschland verbindet sich mit Namen wie Carl Zeiss, Robert Bosch, Werner von Siemens, Emil Rathenau, Alfred Krupp, August Thyssen, den Gebrüdern Mannesmann, Gottlieb Daimler, Melitta Bentz, Margarete Steiff und der Familie der Haniels. Ihre Leistung überdauerte die Jahrhunderte: Sie entdeckten und entwickelten nicht nur ihre jeweiligen Produkte – das Automobil, die Stahlröhre ohne Schweißnaht oder den Stoffteddy –, sie begründeten überhaupt erst das moderne Unternehmertum. Das Managen komplexer Prozesse rückte in den Mittelpunkt der Firmenkultur, die Arbeitsteilung wurde verfeinert, die Globalisierung des Absatzes erprobt, und auch die Sozialpartnerschaft begann sich nach dem Ersten Weltkrieg zu entwickeln. Siemens führte 1908, Robert Bosch 1915 ein firmeneigenes Gesundheitswesen ein.
Viele der Methoden, die heute beim Führen eines globalen Konzerns zur Anwendung kommen, wurden damals zum ersten Mal praktiziert. Der Unternehmer betrachtete sich nicht mehr als einen Nomaden, der vorhandene Weideplätze abgrast und dann weiterzieht, sondern verstand sich als Plantagenbesitzer, der seinen Markt beackert, bebaut und zu immer neuen Fruchtfolgen bringt. Heute würde man das » Nachhaltigkeit « nennen.
Die gewöhnlichen Menschen folgten dem Vorbild des Unternehmers. Sie verließen das Reich der Grundbedürfnisse und betraten den Garten der Begehrlichkeiten. Auch sie wollten nun von allem mehr, mehr Lohn, mehr Lebenszeit und mehr Wohlstand.
Und tatsächlich: Die Arbeiter in ihren windschiefen Baracken hausten zwar elendig, aber sie lebten auf einmal länger. Denn es wurden Penicillin und andere Medikamente erfunden. Eine Pharmaindustrie entstand, für die jeder halbwegs zahlungskräftige Kranke ein Kunde war. Ein Brite lebte am Ende des 19. Jahrhunderts zwölf Jahre länger als zu seinem Beginn. Der westliche Mensch hatte seine alten Todfeinde, die Hungersnot und die Pest, besiegt.
Der Staat wirkte segensreich, weil er die Eigentumsrechte nun garantierte. Der willkürliche Umgang mit dem Eigentum in den Jahrhunderten davor, als nach Gusto erobert, gebrandschatzt, demontiert und enteignet wurde, kam zu einem allmählichen Ende. Der moderne Staat
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