Unsere schoenen neuen Kleider
Interesse der Versicherten sein? Mit diesen Fragen stößt man an die Grenzen unseres Systems. Über solche Fragen wird nicht diskutiert.
Was die heute herrschende Meinung dem Osten nicht verzeiht, sind die anderen Eigentumsformen. Dem Einzelnen bescherte das die Erfahrung, in einer Gesellschaft gelebt zu haben, in der Geld nicht alles war.
Das auszusprechen, ohne umgehende Relativierung und Einschränkung, macht mir sofort ein schlechtes Gewissen, weil ich jetzt gleich wieder alles Unrecht aufzählen müsste, als hätte ich das noch nie getan. Doch gerade in dem Versuch, mich aus meiner devoten Haltung zu befreien, merke ich, wie sehr ich das schlechte Gewissen verinnerlicht habe. Es sind scheinbare Kleinigkeiten: So bin ich erleichtert, dass das Buch über die Treuhand nicht von einem Ostler geschrieben wurde, sondern von einem Autor, der 1974 in Hamburg geboren worden ist. Verwende ich kritische Äußerungen, so füge ich (wie auch etliche meiner Kollegen) gern hinzu, dass ja diese oder jener nicht im Verdacht steht, ein Kommunist oder Linker zu sein. Als ich eine Kollegin zitierte, fügte ich ungebeten hinzu, dass sie 1988 in den Westen gegangen sei, also mit der DDR nichts am Hut habe. Wie von Geisterhand gerät einem das Wort »ehemalig« in den Sprachgebrauch, wenn von der DDR die Rede ist, als brauchte es diesen Zusatz, um sie in die Vergangenheit zu bannen. Niemandem käme es in den Sinn, vom ehemaligen Dritten Reich oder der ehemaligen Weimarer Republik zu sprechen.
Doch zurück zum Beginn der neunziger Jahre. Der Westen in seiner real existierenden Form besaß nach seinem offiziellen Selbstverständnis keinen Gegenentwurf mehr, wir waren in einer alternativlosen Welt angekommen. Demokratie, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Wohlstand schienen nur in einer Marktwirtschaft existieren zu können, in der es Privateigentum an Produktionsmitteln gab. Noch heute resümiert jemand wie Joachim Gauck seine mit »Freiheit« überschriebene Rede: »Und deshalb gibt es keinen Grund für den alt-neuen Versuch, eine neue Variante von Antikapitalismus in die Debatte zu bringen.« 6
Wundern aber hätte man sich schon dürfen, warum die Implosion des Ostens jede Alternative zum Bestehenden aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verbannen konnte. Denn die erstarrte Gestalt des real existierenden Sozialismus wurde ja nie – zumindest nicht von der Mehrheit jener, die in ihm zu leben hatten – als Alternative verstanden. Das war ein vormundschaftlicher Staat, keine Demokratie. Und Freiheit und Demokratie waren ja die Forderungen des Herbstes 89. Es gab kein Plakat, keinen Slogan, keinen Sprechchor für die Privatisierung, keine Forderung, das Recht auf Arbeit abzuschaffen. Warum sollten Freiheit und Demokratie nicht mit dem gesellschaftlichen Eigentum an Produktionsmitteln möglich sein? Diese Frage zu stellen wäre naheliegend gewesen. Denn gerade dort, wo nicht auf Teufel komm raus privatisiert wurde, überlebten auch größere Betriebe, wie beispielsweise Zeiss-Jena.
Diese Frage aber wurde damals nur von einigen wenigen formuliert. Gehör fand sie nicht im freiheitlichen demokratischen Medienapparat. Im Grundgesetz gibt es keinen Paragraphen, der von privatem Eigentum an Produktionsmitteln spricht. 1947 hatte selbst die neu gegründete CDU gerade in Großindustrie und Konzernen eine Bedrohung von Freiheit und Demokratie gesehen. In ihrem Ahlener Parteiprogramm von 1947 formulierte sie: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein.«
Solche Gedanken, bleibt festzuhalten, waren spätestens nach dem Mauerfall nicht nur gestrig, sie waren unverzeihlich dumm.
Wir haben das Märchen in dem Moment verlassen, in dem bereits alle in der Stadt wussten, was es mit den neuen Kleidern auf sich hat. Im Sinne der Betrüger ist die Sache damit gelaufen. Ihre Version hat die Deutungshoheit erobert. Kann man da noch von jemandem, auch wenn er der beste Mann im ganzen Staat ist, erwarten, dass er sich allein gegen die öffentliche Meinung stellt? Dass er sich dem Verdacht aussetzt, für sein Amt
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