Unsere schoenen neuen Kleider
und mir die DDR zurückwünsche.
Irritierend ist, dass sich niemand über das Angebot der Betrüger wundert. Niemand bittet die Fremden zu erklären, was denn ihre Maßstäbe für klug und dumm seien oder mit welcher Technologie sie das Wunder bewerkstelligen wollten. Warum ist das so? Weil die Begierde, weil ein geheimer drängender Wunsch, Sicherheit im eigenen Urteil zu finden, wo es immer Zweifel gibt, stärker ist als alle Vernunft?
»›Das wären ja prächtige Kleider‹, dachte der Kaiser; ›wenn ich solche hätte, könnte ich ja dahinterkommen, welche Männer in meinem Reiche zu dem Amte, das sie haben, nicht taugen, ich könnte die Klugen von den Dummen unterscheiden! Ja, das Zeug muß sogleich für mich gewebt werden!‹«
Mehr Gründe verrät uns das Märchen nicht. Der Kaiser will die Kleider nicht, wie man erwarten könnte, weil sie besonders prächtige Kleider wären. Ja es sind gar nicht die Kleider als solche, die ihn interessieren, sondern die ihnen zugeschriebene Eigenschaft. Liegt dem Kaiser denn plötzlich an seinen Amtsgeschäften? Oder ist es nicht vielmehr der Kick, den diese Kleider versprechen? Deren Eigenschaft würde ihn über alle anderen stellen – solange nur er darum weiß. An diese Implikation denkt er allerdings noch nicht.
Den Betrügern wird es leichtgemacht. Sie brauchen noch nicht einmal Startkapital – auch das erhalten sie vom Kaiser.
Ein Rest Beklommenheit ist dem Souverän dennoch geblieben. Er geht nicht selbst in die Werkstatt der beiden Fremden, sondern schickt seinen besten Mann, den guten alten Minister, der sein Vertrauen besitzt. Doch noch bevor dieser sich auf den Weg macht, heißt es: »Alle Menschen in der ganzen Stadt wußten, welche besondere Kraft das Zeug habe, und alle waren begierig zu sehen, wie schlecht oder dumm ihr Nachbar sei.« Ein wichtiger Satz. Es wissen nicht nur alle, sondern sie haben diese neue Wahrheit bereits für sich selbst akzeptiert und in ihrer eigenen Welt heimisch gemacht. Wie das gekommen ist, bleibt offen. Ob die Betrüger selbst die Nachricht gestreut haben, ob sie sich von Mund zu Mund wie von allein verbreitet hat oder der Aufmacher in allen Zeitungen war, erfahren wir nicht. Wir wissen nur um die Wirkung. Um diese zu erreichen, muss es eine organisierte Lüge gegeben haben, eine Art Ersatzwahrheit, in der Realität durch Fiktion ersetzt worden ist. Anders könnte die neue Erkenntnis nicht derart von den Bewohnern der Stadt verinnerlicht werden. Die Story sitzt, sie wirkt, sie ist Wirklichkeit geworden – alle Menschen wussten …
Wer die Fernsehbilder vom Mauerfall sah oder jene Szenen, in denen DDR -Bürger über den Zaun der bundesdeutschen Botschaft in Prag kletterten, wer den Aufschrei der dort im Garten ausharrenden Flüchtlinge hörte, kam gar nicht erst auf die Idee zu fragen, welches System besser sei. Das war offensichtlich, das war eine evidente Wahrheit. Die Abstimmung mit den Füßen fiel eindeutig aus.
Was in Osteuropa geschah, hatte Signalwirkung für die ganze Welt. Deutschland war und ist das Beispiel, an dem das Ende des Kalten Krieges mit Vorliebe durchexerziert wird. Dabei schlagen die Bilder vom Mauerfall alles andere aus dem Rennen, sei es Gorbatschow, seien es der polnische Runde Tisch, die ungarischen Reformen oder die dunklen Aufnahmen der frühen Montagsdemonstrationen.
Die politische Implosion des Ostblocks veränderte das Machtgefüge in der Welt. Für kein Land blieb das ohne Folgen. Privatisierung und Marktwirtschaft drängten weltweit sozialistische Modelle und nichtprivate Eigentumsformen zurück. Beispielsweise hätten Länder wie Südafrika oder Namibia ohne den Kollaps des Ostblocks mit großer Wahrscheinlichkeit andere Verfassungen erhalten – und die Besitzverhältnisse wären ebenfalls andere geworden. Aber auch Länder wie China und Indien änderten ihren Kurs.
Zu Beginn der neunziger Jahre spricht sich in zwei Buchtiteln eine damals weit verbreitete und zugleich auch offiziell geschätzte Stimmung aus: Zum
einen wiederbelebte Francis Fukuyama 1992 den Begriff vom »Ende der Geschichte« und rief ihn für die Gegenwart aus. 2 Hatte Hegel das Ende der Geschichte mit dem Sieg der Ideen der Französischen Revolution in der Schlacht bei Jena gesehen, so deutet Fukuyama die Hegel’sche Idee mit Marx, Kojève und Marcuse gegen Marx als eine Art letzte Synthese, in der das liberale christliche Bürgertum, der Westen, nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zerfall der Sowjetunion zur
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