Unsere schoenen neuen Kleider
der social security wird »Leistungskürzung für Arbeitsunwillige«, die Belastung für Arme heißt »Eigenverantwortung«, die Kürzung der Arbeitslosenhilfe wird zum »Anreiz für Wachstum«, die Senkung der geringsten Einkommen wird als »globale Konkurrenzfähigkeit« oder »marktgerechte Beschäftigungspolitik« bezeichnet, Gewerkschaften, die für Flächentarifverträge eintreten, werden zu »Tarifkartellen« und »Bremsern« und so weiter. 4 Vor kurzem hörte ich in einem Interview des Deutschlandfunks die Formulierung: »Wir müssen endlich unsere Sozialsysteme entrümpeln!« Leider fragte der Interviewer nicht nach, was unter einer Entrümpelung der Sozialsysteme zu verstehen wäre.
»Man pflegt das Schiller-Distichon von der ›gebildeten Sprache, die für dich dichtet und denkt‹, rein ästhetisch und sozusagen harmlos aufzufassen«, schreibt Victor Klemperer in seiner LTI. 5 »Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewußter ich mich ihr überlasse.«
Mit den Worten, die ich benutze, mit der von mir gesprochenen und geschriebenen Sprache fallen Vorentscheidungen in meinem Fühlen, Denken und Handeln. Das Bild, das ich mir von mir selbst und von der Welt mache, hängt auch davon ab, welche Worte ich wähle, welche Bedeutung ich diesen Worten als Einzelner gebe und welche Bedeutung die Gesellschaft als Ganzes ihnen gibt.
Wer die neuen Kleider nicht sieht, gilt als unverzeihlich dumm.
Das Attribut »unverzeihlich« hat es in sich. Dumm wäre ja nicht so schlimm, aber »unverzeihlich dumm« heißt: Diesen Fehler machst du nur einmal, danach bist du erledigt.
Als Jugendlicher wurde mir einst von einem Radiojournalisten ein Mikrofon unter die Nase gehalten. Es ging um den Besuch von Erich Honecker in Bonn. Plötzlich sagte ich »Herr Honecker«. Mir selbst war im Moment, da ich es aussprach, klar, dass irgendetwas nicht stimmte. Die Zornesfalte auf der Stirn des Journalisten bestätigte meine Vermutung, aber ich war nicht in der Lage, mich selbst zu verbessern. Das Interview wurde abgebrochen, und ich wurde belehrt, dass ich »Genosse Honecker« oder besser noch »Genosse Erich Honecker« zu sagen hätte oder »Genosse Generalsekretär Erich Honecker«.
Es gibt aber auch heute wieder Worte, die – um einen schönen Vergleich von Günter Gaus aufzunehmen – wie der Geßler-Hut aus Wilhelm Tell gebraucht werden. Wehe, du grüßt ihn nicht, wehe, du sprichst es nicht aus. »Unrechtsstaat« ist so ein Wort geworden. Er oder sie weigert sich, die DDR einen Unrechtsstaat zu nennen.
1990 ging mir dieses Wort flott über die Lippen. Ich hatte zwar nie mit der DDR -Justiz zu tun gehabt, dennoch wusste ich: Sobald es auch nur entfernt um etwas Politisches ging, herrschte Willkür. Was da als Straftat galt – von Republikflucht bis Devisenvergehen –, zeigte ja nur, dass der Staat selbst es war, der Unrecht verübte.
Heute jedoch wäre ich vorsichtig mit diesem Begriff. Nicht weil ich meine Meinung über das eben Gesagte geändert hätte, ganz im Gegenteil! Aber im politischen Kontext der Gegenwart und zweiundzwanzig Jahre nach dem Ende der DDR ist »Unrechtsstaat« eine zu undifferenzierte Beschreibung. Heute bedeutet es vor allem: Über einen Unrechtsstaat brauchen wir gar nicht erst zu reden, das hat sich erledigt! Durch die Bezeichnung »Unrechtsstaat« ist alles, was in der DDR gemacht oder versucht wurde, diskreditiert und ad acta gelegt. Man anerkennt zwar die Lebensleistung der östlichen Schwestern und Brüder, gibt aber unter der Hand zu verstehen, dass ihre Arbeit eigentlich vergebliche Liebesmüh’ war und ihr Traum von einer besseren Welt verblasene Ideologie. Dabei war tatsächlich manches besser und sinnvoller, als es heute ist. Angefangen bei einem einheitlichen Arbeitsgesetzbuch und dem Recht auf Arbeit über ein moderneres Familienrecht, ein einheitliches Gesundheitswesen mit einer vorbildlichen Krebsstatistik und Kinder- und Jugendfürsorge. Die Verwaltungskosten der einheitlichen Sozialversicherung lagen bei 0,35 Prozent, heute betragen sie 7 Prozent. Diese Dinge zu benennen bedeutet dann auch zu fragen: Warum müssen Ärzte wie Geschäftsleute denken? Ist das nicht unmoralisch und eine Gefährdung des ärztlichen Ethos? Und nebenbei für die Gesellschaft auch unökonomisch? Und kann eine private Versicherung, die per se verpflichtet ist, Gewinn zu machen, überhaupt im
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