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Unsere schoenen neuen Kleider

Unsere schoenen neuen Kleider

Titel: Unsere schoenen neuen Kleider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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ungeeignet und unverzeihlich dumm zu sein?
    Man kann es. Und man muss es sogar! Aber alle Wahrscheinlichkeit spricht dagegen. Das Fatale ist: Der gute alte Minister ist bereits selbst von den Versprechungen der Betrüger überzeugt. Er hat, wie offenbar alle anderen auch, deren Sichtweise internalisiert. Er glaubt den Worten der beiden Fremden mehr, als er seinen eigenen Augen traut. Die ganze Erfahrung seines Lebens vermag nichts gegen die neuen Verheißungen. Er reißt die Augen auf, sieht nichts, hat sich aber in der Gewalt, um sich dem neuen Geist zu fügen und die neuen Kleider anzuerkennen. Ja er »merkt gut auf«, um dem Kaiser die Farben und das seltsame Muster erklären zu können. In seiner Not verleiht er dem Trugbild Substanz. Er zeugt als Erster für dessen vermeintliche Wahrheit. Für den Nächsten wird es nun noch schwerer, den eigenen fünf Sinnen zu trauen.
    So kommt es, wie es kommen muss: Ein anderer tüchtiger Staatsmann wird ausgesandt, »er guckte und guckte; weil aber außer dem Webstuhl nichts da war, so konnte er nichts sehen«. Er zweifelt nicht an seiner Klugheit, aber an seiner Tauglichkeit für das ihm verliehene Amt. Das aber will er nicht verlieren. »Ja, es ist ganz allerliebst!«, lobt auch er schließlich die Kleider des Kaisers. Und dann heißt es wieder: »Alle Menschen in der Stadt sprachen von dem prächtigen Zeuge.«
    Als Dritter erscheint der Kaiser selbst. Aber da müssen schon nicht mehr die »listigen Betrüger« ihre Sache betreiben. Sie können sich zurückhalten und fleißig weiterarbeiten, denn es sind die beiden »ehrlichen Staatsmänner«, wie Andersen sie nennt, die erfahrenen und vertrauenswürdigen Politiker, die das Geschäft der Gauner übernommen haben. »Ja, ist das nicht prächtig?«, sagen die beiden und erklären dem Kaiser seine neuen Gewänder.
    Der Kaiser – wen wundert es noch – zweifelt nicht an ihnen, sondern an sich selbst. Spätestens jetzt wird der Kaiser die Geister, die er rief, nicht mehr los. Was er sich als Herrschaftswissen hatte verschaffen wollen, nämlich erkennen zu können, wer für ein Amt taugt oder nicht, ist zur allgemein akzeptierten Wahrheit geworden, nach der auch er beurteilt wird. Statt an Souveränität zu gewinnen, verliert er sie. Selbst der Kaiser muss sich nun diesen Kriterien beugen. Und er akzeptiert sie. Er akzeptiert sie aus Überzeugung. Deshalb kommt er auch nicht auf die Idee, in der Erzählung der beiden Fremden ein Mittel zu sehen, das Opportunismus und Selbstverleugnung und Entmündigung bewirkt. Lieber traut er seinen eigenen Augen nicht und mogelt sich durch. Er will ja Kaiser bleiben. Und so finden die nicht vorhandenen Kleider auch seinen »allerhöchsten Beifall«! Der Hofstaat ist entzückt.
    Andersen beschreibt, wie eine Lüge – wohlkalkuliert und selbstbewusst vorgetragen – gegen alle Erfahrung und Wahrscheinlichkeit, auch gegen jeden Augenschein und jede Nachprüfbarkeit von einer ganzen Gesellschaft Besitz ergreift.
    Vor ein paar Tagen wurde ich in einem E-Mail-Interview gefragt, warum ich denn überrascht sei, dass im Kapitalismus Arm und Reich immer weiter auseinanderdrifteten. Nicht zuletzt aufgrund meiner Sozialisation hätte ich es doch besser wissen müssen.
    Dieses Argument überraschte mich. Ich entblödete mich nicht, gleich zurückzufragen, ob er, der Interviewer, aus dem Westen komme. Denn natürlich hatte es mich überrascht. Was ich in der DDR über den Kapitalismus zu hören bekam, interessierte mich nicht sonderlich. Schließlich billigte man mir ja nicht zu, mir selbst vor Ort im Westen ein Urteil zu bilden. Der Interviewer bekannte, aus Leipzig zu stammen, derselbe Jahrgang wie ich zu sein, gestand dann allerdings, dass seine Verwunderung in der Frage nur gespielt gewesen sei. So wunderten wir uns nun beide, warum wir vom Kapitalismus so überrascht worden waren.
    Als ich in meinem Roman Neue Leben die Hauptfigur eine Novelle über ihre Schulzeit schreiben ließ, in der unter anderem auch eine Stunde Staatsbürgerkundeunterricht vorkommt, baute ich Zitate aus meinem Staatsbürgerkundehefter der 9. Klasse ein – aufgeschrieben im Oktober 1977. In der Novelle heißt es zitierend:
    »Das Ziel der kapitalistischen Produktion besteht in der Gewinnung des höchstmöglichen Mehrwertes, also des Profits, durch Verschärfung der
Ausbeutung.« In einem Kästchen erschien »angeeigneter Profit«, von dem wiederum links und rechts ein Pfeil abging. Links: »für persönliche Zwecke /

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