Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unsere schoenen neuen Kleider

Unsere schoenen neuen Kleider

Titel: Unsere schoenen neuen Kleider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
Vom Netzwerk:
bestimmenden Größe wird. In dieser Weltsicht wird der »real existierende Sozialismus« wie die Idee des Kommunismus – dem Fukuyama ironischerweise in seiner geradlinigen Heilserwartung strukturell verwandt ist – zu einem Unfall, dessen Folgen nun behoben sind, zu einer Krankheit, die endlich überstanden ist. Die Menschheit kommt in einer Art höherem Naturzustand zur Ruhe, das Paradies ist greifbar nahe.
    Scheinbar gegensätzlich argumentiert Samuel Huntington mit seinem »Clash of Civilizations«. 3 Er sieht
nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die westliche Hegemonie noch nicht gekommen, dafür aber das Zeitalter, in dem der Westen mit den islamischen
Ländern und mit China notwendigerweise in Konflikt geraten wird.
    Beide Bücher haben vor allem eines gemeinsam: Sie sehen den Westen als widerspruchslose Einheit. Der Westen ist der Westen ist der Westen. Die Gegner sind verschwunden oder ausgelagert.
    Als jemand aus dem Osten hatte ich tatsächlich das Gefühl, aus der Zukunft zurückgekehrt zu sein (Boris Groys). Jetzt gab es nur noch Gegenwart. Die Zukunft war in der DDR von offizieller Seite her notgedrungen positiv besetzt gewesen. Doch auch ich hatte, wie die meisten anderen, Erwartungen an die Zukunft, mit denen sich Hoffnungen auf eine bessere Gesellschaft verbanden. 1990 kam uns der Begriff der Zukunft abhanden. Zukunft konnten wir nur noch als ein graduell verbessertes Heute denken, aber nicht mehr als etwas anderes. Wir waren ja bereits in der besten aller Welten angekommen. Der Kampf war entschieden, der »Sieger der Geschichte« stand fest. Was der Westen gemacht hatte, war richtig, was der Osten gemacht hatte, war falsch. Fortan würde nur noch gemacht werden, was richtig war.
    Was unter Reagan und Thatcher bereits im Aufwind gewesen war, die Privatisierungen und Ökonomisierung praktisch aller Lebensbereiche, aber ebenso eine Außenpolitik, die den Einsatz des Militärs mit neuer Selbstverständlichkeit zu ihren Mitteln zählt, hatte immer Widerspruch erfahren und Widerstand erlebt und seine Grenzen gefunden. Mit dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren diese Grenzen verschwunden, und der Widerspruch – ganz zu schweigen vom Widerstand – in den westlichen Ländern versiegte auf schier unheimliche Weise. Das Ziel, an dem sich alle politischen Entscheidungen von nun an auszurichten hatten, hieß wirtschaftliches Wachstum. Sobald ein Vorschlag, ach, ein Gedanke, in Verdacht geriet, das Wachstum zu hemmen, war dieser nicht nur in der politischen Arena, sondern auch an den Stammtischen erledigt. Politik war dazu da, Wachstum anzuheizen. Das beste Mittel, um Wachstum zu schaffen, sollte eine allumfassende Privatisierung sein. Weniger Staat, mehr Markt. Je mehr Freiheit, desto mehr Wohlstand. Kaum jemand fragte: Freiheit für wen? Freiheit wovon? Wohlstand für wen? Worte wie Kapitalismus, Klassenkampf, Profitmaximierung oder gar Ausbeutung wurden als veraltet belächelt und im Sprachgebrauch tunlichst vermieden. Zu fragen, wer woran verdient, wem dies oder das nutzt und zu wessen Nachteil dieses oder jenes ist, galten als unfein und als Ausdruck vulgären Denkens. So verschwand eine ganze Gruppe von Worten und Fragen ausgerechnet in dem Moment, da sie notwendiger denn je gewesen wären, um die alte neue Wirklichkeit beschreiben zu können.
    Die alte neue Ideologie besteht darin, die Fakten und Tatsachen so aussehen zu lassen, als handelte es sich um etwas Gegebenes, naturgesetzlich Vorgefundenes, womit wir uns abzufinden haben. Dieser Sprachgebrauch lockt von den politischen, sozialen, ökonomischen und historischen Zusammenhängen und Fragen weg und führt in Gefilde, in denen es keine Infragestellung des Status quo gibt, in denen alle Zwänge Sachzwänge sind und gegensätzliche Interessen nur an der Oberfläche existieren. Eine Sprache, die aus Geschichte Natur macht, eine Natur, die zu ändern nicht in unserer Macht steht, mit der wir uns zu arrangieren, an die wir uns zu gewöhnen haben. Die neu geltenden Spielregeln wurden als die einzig anstrebenswerten vorausgesetzt und verabsolutiert, wer sie nicht akzeptiert, stellt sich außerhalb des Diskurses.
    Am Diskurs teilnehmen dürfen jene, die Profit »Shareholder value« nennen, die zu demjenigen, der seine Arbeitskraft verkauft, »Arbeitnehmer« sagen und zu demjenigen, der die Arbeit kauft, »Arbeitgeber«. Steuersenkungen für Unternehmen und Unternehmer werden »Entlastung der Investoren« genannt, aus der Senkung

Weitere Kostenlose Bücher