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Unsere schoenen neuen Kleider

Unsere schoenen neuen Kleider

Titel: Unsere schoenen neuen Kleider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Ministerpräsident Papandreou, der diese Volksabstimmung vorgeschlagen hatte, wurde voller Abscheu durch seine europäischen Amtskollegen vom Gipfeltreffen verjagt, seine politische Karriere war beendet. Der Kapitalismus braucht keine Demokratie, sondern stabile Verhältnisse. Das gilt nicht nur für Länder wie China, sondern auch für Europa.
    Wir müssen Angela Merkel dankbar sein, dass ihr der Begriff der »marktkonformen Demokratie« entschlüpft ist. Denn damit hat sie unsere demokratische Verfasstheit auf den Punkt gebracht. Wären die großen Medien aufmerksamer gewesen, hätten sie die Bundeskanzlerin bitten können, diesen Begriff zu erklären. Aber das hat ihr niemand abverlangt. Marktkonforme Demokratie ist das allerschönste unserer neuen demokratischen Kleider, an dem öffentlich meines Wissens noch niemand Anstoß genommen hat. 11 Es gilt als Selbstverständlichkeit, dass die Demokratie auf den Kopf gestellt wird. Müssten nicht die Akteure an den Börsen versuchen, das Vertrauen des Gemeinwesens zurückzugewinnen? Anstatt um marktkonforme Demokratie geht es doch um demokratiekonforme Märkte!
    Demokratiekonforme Märkte wären Märkte, auf denen eben nicht alles erlaubt sein darf, was Geld bringt, vom dubiosen Finanzprodukt bis zur Spekulation mit Lebensmitteln. Demokratiekonform bedeutet, der Wirtschaft soziale, moralische und ökologische Standards abzuverlangen und diese ihnen auch zu ermöglichen. Dafür brauchte es aber eine Politik, die dem wirtschaftlichen Wachstum nicht alle Entscheidungen unterordnet.
    Habe ich mich, indem ich das ausspreche, als unverzeihlich dumm entlarvt? Wäre jemand, der so oder ähnlich denkt, für ein Amt tauglich?
    Demokratiekonforme Märkte einzufordern ist aber auch eine Frage von Leben und Tod. Denn unser Alltag ist von einer mörderischen Doppelbödigkeit geprägt, einer Doppelbödigkeit, die die Konsequenzen unserer Entscheidungen und unseres Wirtschaftens verdeckt. Was bei uns zu Verarmung, Unfreiheit, Krankheit, Benachteiligung, Ausgrenzung führt, kostet anderswo Menschenleben, und das millionenfach.
    Nachdem im Oktober 2008 die Regierungschefs der Euro-Staaten zusammengekommen waren und 1,7 Billionen Euro bereitgestellt hatten, um die Kreditgeschäfte unter den Banken wieder zu beleben, kürzten dieselben Länder in der Folge sowohl ihre Zuwendungen an die Hilfsorganisationen als auch die Kredite für die ärmsten Länder massiv. Das mit der Nahrungs-Nothilfe betraute Welternährungsprogramm der UNO verfügte über einen Etat von sechs Milliarden Dollar. 2011 waren es nur noch knapp drei Milliarden Dollar. Das bedeutete unter anderem: Die Schulspeisung einer Million unterernährter Kinder in Bangladesch musste gestrichen werden. Die dreihunderttausend somalischen Flüchtlinge erhalten heute nur noch eine Tagesration von 1500 Kalorien statt des Existenzminimums von 2200 Kalorien. 12
    Wurden vor der Immobilienkrise etwa 13 bis 18 Milliarden Dollar in sogenannte nachwachsende Rohstoffe investiert, so waren es 2011 600 Milliarden Dollar. Die Spekulation mit Nahrungsmitteln, an denen auch alle großen deutschen Banken einschließlich der Sparkassen beteiligt sind, sorgt seit Jahren für drastisch ansteigende Lebensmittelpreise. Mitunter verdoppelte sich der Preis binnen eines Jahres. Ein deutscher Vertreter des UN -Hilfsprogramms sagte in der Sendung Frontal vom 24. 8. 2010, dass sich 2009 die Zahl der Hungernden um 100 Millionen erhöht habe.
    Zu den Hauptursachen für den Hunger in Afrika zählen aber auch die Agrarsubventionen der Industriestaaten. Die Agrarsubventionen der EU beliefen sich 2008 auf 55 Milliarden und hatten unter anderem zur Folge, dass Gemüse und Fleisch aus Europa häufig die Produkte der lokalen Produzenten um ein Viertel bis ein Drittel des Preises unterboten, was zu einem Ruin der lokalen Landwirtschaft führte mit den bekannten Folgen.
    Während die eine Hand spendet und Entwicklungshilfe leistet, bedient sich die andere Hand schamlos für den eigenen Gewinn.
    Es wird, allen Beteuerungen zum Trotz, mit zweierlei Maß gemessen, eine Schizophrenie, die Tradition hat. Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 4. Juli 1776, in der zum ersten Mal die allgemeinen Menschenrechte niedergelegt wurden, hatte Benjamin Franklin und Thomas Jefferson als Autoren. Als Jefferson 1826 starb, hinterließ er seinen Erben, neben großen Ländereien in Virginia, auch die vollen Besitzrechte an mehr als 200 Sklaven. Die

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