Unsere schoenen neuen Kleider
dem die Stimme des Einzelnen nicht mehr zu erkennen ist. »›Aber er hat ja gar nichts an!‹ rief zuletzt das ganze Volk.«
Über die folgenden beiden Sätze des Märchens, die Schlusssätze, ließe sich gar eine dritte Rede halten. Der Kaiser, der von dem, was sein Volk sagt, ergriffen ist, der dem Volk auch recht gibt, aber nur still für sich, dieser Kaiser glaubt, dass er jetzt nicht mehr anders kann, dass er jetzt durchhalten muss – und mit ihm sein ganzer Hofstaat. Selbst der Souverän handelt – wieder – nicht souverän. Tat er es anfangs aus Überzeugung, so tut er es jetzt aus Angst und Kalkül. Aber wer, wenn nicht er, könnte den Spuk beenden? Er hat doch die Macht! Oder nicht? Was aber ist stärker als er? Was ist nicht »durchsetzbar«? Die Geister, die er selbst gerufen hat? Die neuen Selbstverständlichkeiten? Die Angst vor der Peinlichkeit, vor dem Gesichtsverlust, obwohl kaum eine größere Peinlichkeit, ein größerer Gesichtsverlust denkbar ist als sein Paradieren in den neuen Kleidern, also seine Nacktheit vor dem Volk?
Der Kaiser könnte aus diesem Zwiespalt als gebrochener Mann hervorgehen, er könnte sich aber auch zum Despoten aufschwingen – zu einer Orwell’schen Figur –, der auf der Wirklichkeit seiner neuen Kleider wider besseres Wissen besteht und bereit ist, seine Wahrheit mit allen Mitteln durchzupeitschen. Die Schlusssätze des Märchens provozieren eine Fortsetzung, deshalb ist es ein gutes Ende.
Festgehalten werden soll, dass es nicht die Beobachtung des Kindes ist, die den Spuk beendet. Nicht sein Ruf allein. Denken Sie an die Rahmenerzählung von Tausendundeiner Nacht . Da ist es auch nicht Scheherasad allein, die sich von Nacht zu Nacht vor dem Tod rettet, indem sie Geschichten erzählt, sondern sie vermag dies nur, weil ihre Schwester Dinarasad sie nicht allein lässt und sie fortwährend lobt und ermuntert, nicht zu verstummen, sie wisse doch noch viel Köstlicheres zu erzählen.
Mir erscheint es einleuchtend, dass es zumindest zweier Menschen bedarf, um sich gegen das zu stellen, was alle wissen, wovon alle überzeugt sind. Der Vater hätte von sich aus nicht den Mund aufgemacht, und das kleine Kind wäre vermutlich verlacht worden.
Als Leser nehmen wir natürlich Partei für das Kind. »Endlich sagt jemand die Wahrheit!« Wer wollte nicht für sich die Rolle desjenigen beanspruchen, der sagt, was ist.
In ihrem Essay »Wahrheit und Politik« stellt Hannah Arendt fest: »Bei näherem Zusehen jedoch zeigt sich erstaunlicherweise, daß man der Staatsräson jedes Prinzip und jede Tugend eher opfern kann als gerade Wahrheit und Wahrhaftigkeit. […] Es geht ja um den Bestand der Welt, und keine von Menschen erstellte Welt, die dazu bestimmt ist, die kurze Lebensspanne der Sterblichen in ihr zu überdauern, wird diese Aufgabe je erfüllen können, wenn Menschen nicht gewillt sind, das zu tun, was Herodot als erster bewußt getan hat – nämlich legein ta eonta , das zu sagen, was ist. Keine Dauer, wie immer man sie sich vorstellen mag, kann auch nur gedacht werden ohne Menschen, die Zeugnis ablegen für das, was ist und für sie in Erscheinung tritt, weil es ist.« 15
Aber ist es nicht eine Anmaßung, die Wahrheit für sich pachten zu wollen? Andersen mag es ja klar gewesen sein, dass der Kaiser keine Kleider anhatte, aber wer versichert uns, dass uns unsere Augen, dass uns unsere fünf Sinne nicht täuschen? Einsteins gekrümmten Raum haben wir auch noch nie erblickt, und der ist offenbar nicht weniger wirklich als das, was wir zu sehen glauben und mit den Newton’schen Gesetzen beschreiben. Letztlich behaupten ja auch die zwei Fremden, die Andersen Betrüger nennt, recht überzeugend ihre Wahrheit.
Es geht im Alltagsleben wie beim Romanschreiben immer auch darum, die eigenen Voraussetzungen mitzuliefern. Ich selbst habe bestimmte Bedürfnisse, Interessen und Ansprüche, von denen ich meine, dass sie mein Leben lebenswert machen, und die mit Bedürfnissen, Interessen und Ansprüchen anderer übereinstimmen, ganz oder teilweise, oder kollidieren oder einander gar nicht berühren. Wären die beiden Betrüger bei Andersen gezwungen worden, ihre Interessen zu formulieren, so hätten sie wahrscheinlich gelogen und gesagt: Wir wollen dem Kaiser Kleider verkaufen, mit Hilfe derer er erkennen kann, wer für sein Amt geeignet ist und darüber hinaus wer unverzeihlich dumm ist. Und dann hätte man fragen können: Was nutzen uns diese Kleider, wenn sich durch sie
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