Unsichtbar
das Einzige, was für mich zählte: Born für immer aus meinem Leben zu verbannen.
Dass ich nichts unternommen habe, ist bei weitem das Tadelnswerteste, was ich jemals getan habe, der Tiefpunkt meiner Laufbahn als Mensch. Meine Unterlassung ließ nicht nur einen Mörder entkommen, sondern hatte auch noch die schleichende Nebenwirkung, mich mit meiner moralischen Schwäche zu konfrontieren: Ich war gezwungen zu erkennen, dass ich nie der Mensch gewesen war, für den ich mich gehalten hatte, dass ich weniger gut, weniger stark, weniger mutig war, als ich mir eingebildet hatte. Entsetzliche, unerbittliche Wahrheiten. Meine Feigheit widerte mich an, und dennoch, wie hätte ich vor diesem Messer keine Angst haben sollen? Born hatte es Williams bedenkenlos und ohne jede Reue in den Bauch gestoßen, und wenn man auch den ersten Stich als Akt der Selbstverteidigung rechtfertigen konnte - was war dann mit den zwölf weiteren, die er seinem Opfer im Park in kaltblütiger Tötungsabsicht zugefügt hatte? Nachdem ich mich fast eine Woche lang so herumgequält hatte, fand ich endlich den Mut, meine Schwester anzurufen, und als ich mir selber bei dem zweistündigen Gespräch mit Gwyn zuhörte, wie ich die ganze unappetitliche Geschichte hervorsprudelte, wurde mir klar, dass ich keine Wahl hatte. Ich musste den Schritt wagen. Wenn ich nicht zur Polizei ging, würde ich jede Selbstachtung verlieren, und die Schmach würde mich bis ans Ende meines Lebens verfolgen.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie meiner Darstellung geglaubt haben. Zum einen gab ich ihnen Borns Brief, der zwar nicht unterschrieben war, aber immerhin das Messer erwähnte und eine deutliche Drohung enthielt, und etwaige Zweifel an der Identität des Verfassers konnten von einem Handschriftenexperten ausgeräumt werden, der keine Mühe mit dem Nachweis hatte, dass der Brief von Born stammte. Zum anderen gab es die Blutlache auf dem Bürgersteig in der Nähe der Kreuzung Riverside Drive und 112th Street. Und schließlich gab es meinen Notruf aus der Telefonzelle nach einem Krankenwagen, der zeitlich mit ihren Aufzeichnungen übereinstimmte, und des Weiteren meine Aussage, dass beim Eintreffen des Krankenwagens niemand am Tatort anzutreffen gewesen war. Anfangs wollten sie nicht recht glauben, dass ein Professor der School of International Affairs der Columbia University zu einem so abscheulichen Gewaltverbrechen fähig sein könnte, ganz zu schweigen davon, dass so ein Mann mit einem Springmesser in der Tasche durch die Gegend spazierte, aber am Ende versicherten sie mir, sie würden der Sache nachgehen. Als ich die Polizeiwache verließ, nahm ich an, der Fall wäre bald abgeschlossen. Es war Ende Mai, zwei oder drei Wochen vor Semesterschluss, und da ich meine Aussage bei der Polizei nach dem Auffinden von Williams' Leiche sechs Tage lang hinausgezögert hatte, ging ich davon aus, dass Born annahm, er habe mit seinem Drohbrief Erfolg gehabt. Da aber hatte ich mich gründlich getäuscht. Wie versprochen begaben sich Polizisten zur Uni, um ihn zu befragen, erfuhren dort aber von einer Sekretärin der School of International Affairs, Professor Born sei vor wenigen Tagen nach Paris zurückgekehrt. Seine Mutter sei plötzlich verstorben, und da das Semester ohnehin bald ende, würden seine letzten Vorlesungen von einem Ersatzmann gehalten. Mit anderen Worten, Professor Born werde nicht mehr zurückkommen.
Ich hatte ihm also doch Angst gemacht. Er hatte seinem Brief misstraut und angenommen, dass ich trotz der Drohung zur Polizei gehen würde. Ja, ich bin hingegangen - aber zu spät, viel zu spät, und er hatte diese Frist genutzt, die Chance ergriffen und war geflohen, hatte das Land verlassen und sich der Gerichtsbarkeit der Stadt New York entzogen. Die Geschichte mit seiner Mutter war gelogen, das wusste ich. Bei unserem ersten Gespräch auf der Party im April hatte er mir erzählt, seine Eltern seien tot, und seine Mutter hätte in der Zwischenzeit schon von den Toten auferstanden sein müssen, um ein zweites Mal zu sterben. Als der Detective mich anrief und mir von Borns Flucht erzählte, empfand ich das als schwere Niederlage. Ich fühlte mich gedemütigt und wie betäubt. Born hatte mich besiegt. Er hatte mir etwas über mich beigebracht, das mich mit Abscheu erfüllte, und zum ersten Mal in meinem Leben begriff ich, was es heißt, jemanden zu hassen. Ich konnte ihm niemals verzeihen - und mir selbst auch nicht.
Teil II
Im dunklen Zeitalter unserer Jugend
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