Unsichtbar
sehr eng miteinander befreundet gewesen - keine gemeinsamen Geheimnisse, keine langen Gespräche unter vier Augen, keine Korrespondenz -, aber es stand außer Frage, dass ich Walker bewunderte, und ich zweifelte nicht daran, dass er mich als ebenbürtig betrachtete, da er mich stets mit Respekt und Wohlwollen behandelt hatte. Er war ziemlich scheu, erinnere ich mich, ein seltsamer Charakterzug bei einem Menschen, der einen so scharfen Verstand besaß und zudem einer der bestaussehenden jungen Männer auf dem Campus war - attraktiv wie ein Filmstar, wie eine Freundin von mir einmal sagte. Aber besser ängstlich als arrogant, finde ich; Leute, die unauffällig in der Masse verschwinden, sind mir lieber als solche, die alle anderen mit ihrer unerträglichen Vollkommenheit einschüchtern. Er war damals eher ein Einzelgänger, aber liebenswert und spaßig, wann immer er aus seinem Bau auftauchte; außer seinem unkonventionellen Humor gefiel mir an ihm besonders das breite Spektrum seiner Interessen, seine Fähigkeit, über Cavalcanti oder John Donne zu sprechen und praktisch im selben Atemzug scharfsinnig und kenntnisreich etwas über Baseball zu erklären, das einem bis dahin noch nie aufgefallen war. Was in seinem Inneren vorging, blieb mir freilich verborgen. Abgesehen davon, dass er eine ältere Schwester hatte (übrigens eine bemerkenswerte Schönheit, was mich auf die Vermutung bringt, dass der gesamte Walker-Clan mit den Genen von Engeln gesegnet war), wusste ich auch nichts über seine Familie oder seine Herkunft und erst recht nichts vom Tod seines kleinen Bruders. Und jetzt war Walker selbst dem Tode nahe; einen Monat nach seinem sechzigsten Geburtstag begann er, Abschied zu nehmen, und nachdem ich seinen zögerlichen, anrührenden Brief gelesen hatte, drängte sich mir der Gedanke auf, dass dies der Anfang sei: Die klugen jungen Männer von einst wurden alt, und binnen kurzem wäre unsere ganze Generation vom Erdboden verschwunden. Statt Adams Rat zu folgen und dem Manuskript bis zu meinem Flug nach Kalifornien keine Beachtung zu schenken, setzte ich mich hin und las es auf der Stelle.
Wie soll ich meine Reaktion beschreiben? Faszination, Belustigung, zunehmendes Grauen und zuletzt Entsetzen. Ohne seinen Hinweis, dass es sich um eine wahre Geschichte handele, hätte ich diese sechzig Seiten wahrscheinlich für den Anfang eines Romans gehalten (Walker wäre nicht der erste Autor, der in seinem Werk eine Figur mit seinem eigenen Namen auftreten lässt), und dann wäre mir der Schluss wenig glaubhaft erschienen - oder vielleicht zu abrupt, auf jeden Fall unbefriedigend -, aber da ich den Text von Anfang an als autobiographisches Bekenntnis las, reagierte ich darauf mit Erschütterung und großer Sorge. Der arme Adam. Er ging so hart mit sich ins Gericht, schrieb mit solcher Verachtung für seine Schwäche in der Beziehung zu Born, mit solchem Abscheu vor seinen kümmerlichen Bestrebungen und seinem jugendlichen Eifer, mit solcher Verbitterung über sein Unvermögen zu erkennen, dass er es mit einem Ungeheuer zu tun hatte, aber wer kann es einem Zwanzigjährigen zum Vorwurf machen, dass er in dem Nebel aus Kultiviertheit und Verdorbenheit, der einen Mann wie Born umgab, die Orientierung verloren hatte? Er hatte mir etwas über mich beigebracht, das mich mit Abscheu erfüllte. Aber was hatte Walker denn falsch gemacht? Er hatte unmittelbar nach der Messerstecherei einen Krankenwagen gerufen, und nach kurzem Zaudern war er zur Polizei gegangen und hatte alles erzählt. Mehr hätte unter den gegebenen Umständen niemand tun können. Walkers Selbstekel konnte unmöglich davon herrühren, wie er sich am Ende verhalten hatte. Was ihn peinigte, war der Anfang, die schlichte Tatsache, dass er sich hatte verführen lassen: Damit hatte er sich sein ganzes weiteres Leben lang herumgequält - so sehr, dass er noch jetzt, da es zu Ende ging, den Drang verspürte, in die Vergangenheit zurückzugehen und die Geschichte seiner Schmach zu erzählen. Seinem Brief zufolge war dies erst das erste Kapitel. Ich fragte mich, was danach noch kommen mochte.
Ich schrieb Walker noch am selben Abend, versicherte ihm, dass ich sein Paket erhalten hätte, bekundete meine Sorge und Anteilnahme wegen seines Gesundheitszustands, sagte, wie froh ich trotz allem sei, nach so vielen Jahren von ihm zu hören, wie sehr seine freundlichen Worte über meine Bücher mich bewegt hätten und so weiter. Ja, versprach ich, ich würde meine Termine so
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