Unsichtbar
einrichten, dass ich seiner Einladung zum Essen folgen könne, und gern wolle ich mit ihm über seine Probleme mit dem zweiten Kapitel seiner Erinnerungen sprechen. Ich habe keine Abschrift meines Briefes, erinnere mich aber, dass ich in einem aufmunternden und bestärkenden Tonfall schrieb; so nannte ich das Kapitel, das er mir geschickt hatte, vorzüglich und verstörend zugleich oder etwas in der Richtung und ließ ihn wissen, meiner Einschätzung nach sei das Projekt es wert, dass er es zum Abschluss bringe. Mehr hätte ich nicht zu sagen brauchen, aber ich konnte meine Neugier nicht bezwingen und schloss daher mit einer Bitte, die fast schon ans Unverschämte grenzte. Verzeih mir, schrieb ich, aber ich weiß nicht, ob ich noch einen Monat warten kann, bis ich erfahre, wie es dir ergangen ist, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Wenn du dich dem gewachsen fühlst, würde ich mich sehr über einen weiteren Brief freuen, bevor ich in deinen Zipfel der Welt komme. Natürlich keinen detaillierten Bericht, nur das Wesentliche - was immer du mir erzählen willst.
Um den Brief nicht den Launen der amerikanischen Post auszuliefern, gab ich ihn am nächsten Morgen per Express auf. Zwei Tage später kam ebenfalls per Express Walkers Antwort.
Ich danke dir sehr und freue mich auf nächsten Monat.
Deine Frage will ich gern beantworten, fürchte jedoch, du wirst meine Geschichte ziemlich langweilig finden. Juni 1969. Wir geben uns die Hand, erinnere ich mich, versprechen, in Kontakt zu bleiben, gehen in verschiedene Richtungen auseinander und sehen uns niemals wieder. Ich fahre nach New Jersey ins Haus meiner Eltern zurück, um dort ein paar Tage zu bleiben, betrinke mich noch am selben Abend mit meiner Schwester, stolpere, falle die Treppe hinunter und breche mir ein Bein. Pech, könnte man meinen, aber am Ende war es das Beste, was mir passieren konnte. Zehn Tage später, Tusch!, werde ich von der Regierung schriftlich aufgefordert, mich zur Musterung zu melden. Ich schleppe mich auf Krücken zur Einberufungsbehörde, werde wegen des gebrochenen Beins vorläufig zurückgestellt, und als der Bruch verheilt ist, wird die Auslosung der Wehrpflichtigen eingeführt. Ich ziehe eine ziemlich hohe Nummer, eine geradezu unanständig hohe Nummer (346), und mit einem Schlag, buchstäblich über Nacht, ist die Konfrontation, die ich so lange gefürchtet habe, für immer aus meiner Zukunft gestrichen.
Von diesem frühen Geschenk der Götter einmal abgesehen, ging es mit mir nicht recht voran, nur mühsam hielt ich Kurs, hin und her schwankend zwischen Anfällen von Optimismus und lähmenden Phasen der Verzweiflung. Unerklärlich, verwirrend, verwirrt. Im Herbst 1969 zog ich nach London - nicht weil England mir attraktiv schien, sondern weil ich es in Amerika nicht mehr aushielt. Das Gift Vietnams, die Tränen Vietnams, das Blut Vietnams. Wir waren damals alle übergeschnappt, stimmt's? Zum Wahnsinn getrieben von einem Krieg, den wir verabscheuten und den wir nicht beenden konnten. Also verließ ich unser liebliches Heimatland, suchte mir ein Drecksloch in Hammersmith und schlug mich die nächsten vier Jahre als elender Schreiberling durch - produzierte unzählige Buchbesprechungen, nahm jeden Übersetzungsauftrag an, den ich kriegen konnte, hauptsächlich französische Bücher, ein oder zwei italienische, eine staubtrockene Geschichte des Nahen Ostens, eine anthropologische Untersuchung über den Voodookult, irgendwelche Krimis, alles Mögliche verwurstete ich ins Englische. Unterdessen schrieb ich weiter meine krausen gnostischen Gedichte. 1972 machte ein obskurer Kleinverlag in Manchester ein Buch daraus, Auflage drei- oder vierhundert Exemplare;
eine ebenso obskure kleine Zeitschrift brachte eine Besprechung, etwa fünfzig Stück wurden verkauft - erinnert mich an die lustige Stelle in Das letzte Band (das du so gern hattest, wie ich noch weiß): «Siebzehn Exemplare verkauft, davon elf zum Großhandelspreis an öffentliche Leihbüchereien in Übersee. Werde bekannt.» Werde bekannt, das kann man wohl sagen.
Danach machte ich noch ein Jahr lang weiter, und dann, nach einem bitteren, qualvollen Gespräch mit mir selbst, gelangte ich zu dem Schluss, dass ich einfach nicht von der Stelle kam, und gab es auf. Nicht dass ich meine Sachen für schlecht hielt. Gelegentlich flogen schon mal die Funken, ein paar meiner Gedichte schienen etwas Frisches und Drängendes zu haben, einzelne Zeilen, auf die ich aufrichtig stolz war,
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