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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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gesehen hatte. Der Junge hielt eine Pistole in seiner linken Hand. Die Waffe war auf uns gerichtet, und einfach so, mit einem einzigen Ticken der Uhr, stand das ganze Universum kopf. Der Junge war kein Individuum mehr. Er war nur noch diese Waffe und sonst nichts, die Albtraumwaffe, die im Kopf jedes New Yorkers spukte, die herzlose, menschenverachtende Waffe, deren Bestimmung es war, dich eines Nachts in einer dunklen Straße aufzuspüren und vorzeitig ins Grab zu schicken. Rück die Kohle raus. Mach die Taschen leer. Schnauze. Eben noch war ich bester Dinge gewesen, und jetzt plötzlich hatte ich mehr Angst als je zuvor in meinem Leben.
    Der Junge blieb etwa einen halben Meter vor uns stehen, richtete die Pistole auf meine Brust und sagte: Keine Bewegung.
    Er stand jetzt so nahe, dass sein Gesicht zu erkennen war, und soweit ich das beurteilen konnte, wirkte er ängstlich, ganz und gar nicht souverän in dem, was er da tat. Wie konnte ich das wissen? Vielleicht war es etwas in seinen Augen, vielleicht hatte ich ein leichtes Zittern seiner Unterlippe bemerkt - ich bin mir nicht sicher. Die Angst machte mich blind, und was auch immer ich an ihm wahrnahm, muss mir durch die Poren gedrungen sein, eine unterschwellige Osmose sozusagen, ein Erkennen ohne Bewusstsein, aber ich war mir nahezu sicher, dass er ein Anfänger war, ein Nachwuchsgangster bei seinem ersten oder zweiten Auftritt.
    Born stand links von mir, und nach einem Augenblick hörte ich ihn sagen: Was wollen Sie von uns? Seine Stimme zitterte leicht, aber immerhin brachte er überhaupt ein paar Worte heraus, wozu ich in dem Moment nicht fähig gewesen wäre.
    Geld, sagte der Junge. Dein Geld und deine Uhr. Von euch beiden. Erst das Geld. Und macht Tempo. Ich hab nicht die ganze Nacht Zeit.
    Ich griff in die Tasche nach meinem Portemonnaie, doch Born schien unvermutet entschlossen, Widerstand zu leisten. So eine Dummheit, dachte ich, Gegenwehr kann uns beide das Leben kosten, aber ich konnte nichts dagegen unternehmen.
    Und was, wenn ich Ihnen mein Geld nicht geben will?, fragte er.
    Dann erschieße ich dich, Mister, sagte der Junge. Ich erschieße dich und nehme dein Geld trotzdem.
    Born stieß einen gedehnten, theatralischen Seufzer aus. Das werden Sie noch bereuen, kleiner Mann, sagte er. Wie wär's, wenn Sie jetzt einfach weglaufen und uns in Ruhe lassen würden?
    Wie wär's, wenn du einfach dein beschissenes Maul halten und mir dein Geld geben würdest?, gab der Junge zurück und stieß die Pistole in die Luft, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen.
    Wie Sie wünschen, erwiderte Born. Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.
    Ich starrte noch immer den Jungen an, weshalb ich Born nur am Rand meines Blickfeldes wahrnahm, aber in der letzten Sekunde drehte ich den Kopf ein wenig nach links und sah ihn in die Innentasche seines Jacketts greifen. Ich nahm an, er wollte seine Brieftasche zücken, doch als er die Hand wieder hervorzog, war sie zur Faust geballt, als ob er etwas darin versteckte, als ob er in seiner geschlossenen Hand irgendeinen Gegenstand verbarg. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung, worum es sich dabei handeln könnte. Eine Sekunde später vernahm ich ein Klicken, und aus Borns Faust sprang die Klinge eines Messers, das er dem Jungen augenblicklich mit einem festen Aufwärtsstoß in den Bauch rammte - ein tödlicher Treffer mitten ins Zentrum. Der Junge grunzte, als ihm der Stahl ins Fleisch fuhr, griff sich mit der Rechten an den Bauch und sank langsam zu Boden.
    Scheiße, Mann, sagte er. Die ist nicht mal geladen.
    Die Pistole fiel ihm aus der Hand und klapperte auf den Bürgersteig. Ich konnte kaum fassen, was ich da sah. Zu viel war in zu kurzer Zeit auf einmal passiert, und nichts davon schien ganz wirklich. Born hob die Pistole auf und ließ sie in die Seitentasche seines Jacketts gleiten. Der Junge stöhnte, hielt sich mit beiden Händen den Bauch und wand sich auf dem Pflaster. Es war zu dunkel, um viel zu erkennen, aber nach einigen Augenblicken glaubte ich, Blut auf den Boden sickern zu sehen.
    Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen, sagte ich schließlich. Am Broadway gibt es eine Telefonzelle. Sie warten hier bei ihm, und ich laufe los und mache den Anruf.
    Seien Sie kein Idiot, sagte Born, packte mich am Kragen und schüttelte mich heftig. Kein Krankenhaus. Der Junge wird sterben, und wir dürfen uns nicht da mit reinziehen lassen.
    Er wird nicht sterben, wenn in den nächsten zehn oder fünfzehn Minuten ein

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