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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Krankenwagen hier eintrifft.
    Und wenn er überlebt, was dann? Wollen Sie die nächsten drei Jahre Ihres Lebens vor Gericht verbringen?
    Das ist mir egal. Machen Sie sich nur davon, wenn Sie wollen. Gehen Sie nach Hause und trinken Sie noch eine Flasche Gin, aber ich laufe jetzt zum Broadway und rufe einen Krankenwagen.
    Schön. Wie Sie wollen. Spielen wir also die braven kleinen Pfadfinder. Ich bleibe hier bei diesem Stück Dreck sitzen und warte auf Sie. Wollen Sie das? Für wie dumm halten Sie mich eigentlich, Walker?
    Ich antwortete ihm gar nicht erst. Stattdessen machte ich kehrt und rannte die 112th Street zum Broadway hinauf. Ich war nur zehn Minuten weg, höchstens fünfzehn Minuten, doch als ich an die Stelle zurückkam, wo ich Born und den verwundeten Jungen verlassen hatte, waren sie beide nicht mehr da. Abgesehen von einer Lache gerinnenden Blutes auf dem Bürgersteig gab es keinerlei Hinweis darauf, dass die beiden jemals dort gewesen waren.

    Ich ging nach Hause. Es hatte keinen Sinn, jetzt noch auf den Krankenwagen zu warten, also lief ich hügelan zum Broadway zurück und ging downtown. In meinem Kopf war es vollkommen leer, ich konnte keinen einzigen zusammenhängenden Gedanken fassen, doch als ich die Tür zu meiner Wohnung aufschloss, wurde mir bewusst, dass ich schluchzte, dass ich tatsächlich schon seit mehreren Minuten schluchzte. Zum Glück war mein Mitbewohner nicht da, was mir die Mühe ersparte, in diesem Zustand mit ihm reden zu müssen. In meinem Zimmer weinte ich weiter, und als die Tränen endlich versiegten, zerriss ich Borns Scheck und steckte die Fetzen in einen Umschlag, den ich ihm am nächsten Morgen mit der Post schickte. Ohne Begleitschreiben. Ich war mir sicher, die Geste sprach für sich selbst, und er würde verstehen, dass ich mit ihm fertig war und nichts mehr mit seiner schmutzigen Zeitschrift zu tun haben wollte.
    Am Nachmittag berichtete die Spätausgabe der New York Post, im Riverside Park sei der achtzehnjährige Cedric Williams mit über einem Dutzend Messerstichen in Brust und Bauch tot aufgefunden worden. Für mich gab es keinen Zweifel, dass Born der Täter war. Kaum war ich losgerannt, um den Krankenwagen zu holen, hatte er den blutenden Williams aufgehoben und in den Park getragen, um die Sache, die er auf dem Bürgersteig begonnen hatte, zu Ende zu bringen. In Anbetracht des starken Verkehrs auf dem Riverside Drive schien es mir unglaublich, dass niemand Born mit dem Jungen auf den Armen gesehen hatte, aber der Zeitung zufolge tappten die mit dem Fall befassten Ermittler noch völlig im Dunkeln.
    Mein Wissen verpflichtete mich natürlich dazu, bei der örtlichen Polizeiwache anzurufen und dort von Born und dem Messer und Williams' versuchtem Raubüberfall zu berichten. Ich stieß auf den Artikel, als ich im Lions Den, der Snackbar im Erdgeschoss des Studentenzentrums, eine Tasse Kaffee trank, und statt eines der öffentlichen Telefone dort zu benutzen, beschloss ich, in meine Wohnung in der 107th Street zu gehen und den Anruf von dort aus zu erledigen. Noch hatte ich niemandem erzählt, was passiert war. Ich hatte versucht, meine Schwester in Poughkeepsie zu erreichen - den einzigen Menschen, dem ich mein Herz ausschütten konnte -, aber sie war nicht zu Hause gewesen. Als ich die Haustür aufgeschlossen hatte, ging ich erst die Post holen, bevor ich den Aufzug nach oben nahm. Es war nur ein Brief da: ein unfrankierter, persönlich abgelieferter Umschlag mit meinem Namen in Blockbuchstaben, dreimal gefaltet und durch den schmalen Schlitz des Briefkastens gestopft. Während der Aufzug mich in den achten Stock beförderte, machte ich ihn auf. Kein Wort, Walker. Denken Sie dran: Ich habe immer noch das Messer, und ich habe keine Angst, es zu benutzen.
    Keine Unterschrift, aber das war wohl auch nicht nötig. Es war eine rüde Drohung, und nachdem ich Born in Aktion erlebt hatte, nachdem ich mit eigenen Augen gesehen hatte, zu welcher Brutalität er fähig war, war ich mir sicher, dass er nicht zögern würde, sie wahr zu machen. Wenn ich ihn anzuzeigen versuchte, würde er mir irgendwo auflauern. Wenn ich nichts tat, würde er mich in Ruhe lassen. Ich war immer noch fest entschlossen, die Polizei anzurufen, aber der Tag verstrich, und dann verstrichen noch mehr Tage, und ich konnte mich nicht dazu aufraffen. Die Angst machte mich stumm, aber Tatsache war auch, dass nur das Stummsein mich davor schützen konnte, noch einmal seinen Weg zu kreuzen, und das war jetzt

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