Unsichtbar
waren Walker und ich Freunde gewesen. 1965 kamen wir zusammen auf die Columbia, zwei achtzehnjährige Frischlinge aus New Jersey, und in den nächsten vier Jahren bewegten wir uns in denselben Kreisen, lasen dieselben Bücher und hatten dieselben Ziele. Nachdem unser Jahrgang den Abschluss gemacht hatte, verlor ich den Kontakt zu ihm. Anfang der siebziger Jahre traf ich jemanden, der mir erzählte, Adam lebe in London (oder in Rom, er wusste es nicht genau), und das war das letzte Mal, dass ich von ihm hörte. In den folgenden gut dreißig Jahren musste ich nur selten an ihn denken, aber wenn ich es tat, fragte ich mich jedes Mal, wie er es geschafft hatte, so vollständig von der Bildfläche zu verschwinden. Von allen jungen Außenseitern unserer kleinen Collegeclique war Walker mir als derjenige erschienen, aus dem am ehesten etwas werden würde, und ich hatte angenommen, früher oder später auf Artikel über seine Bücher zu stoßen oder Sachen von ihm in irgendwelchen Zeitschriften zu lesen - Gedichte oder Romane, Kurzgeschichten oder Rezensionen, vielleicht auch eine Übersetzung eines seiner geliebten französischen Dichter -, aber dazu ist es nie gekommen, und daraus konnte ich nur schließen, dass der Junge, der für ein Leben in der literarischen Welt bestimmt gewesen war, sich letztlich doch anderen Dingen zugewandt hatte.
Vor knapp einem Jahr (im Frühjahr 2007) brachte mir der UPS-Bote ein Paket in mein Haus in Brooklyn. Es enthielt das Manuskript von Walkers Erzählung über Rudolf Born (Teil I dieses Buchs) und ein Begleitschreiben von Ad das folgendermaßen lautete:
Lieber Jim,
verzeih meine Zudringlichkeit nach so langem Schweigen. Wenn meine Erinnerung nicht trügt, ist es achtunddreißig Jahre her, seit wir zuletzt miteinander gesprochen haben, aber neulich stieß ich auf die Ankündigung einer Veranstaltung, die du nächsten Monat in San Francisco machen wirst (ich lebe in Oakland), und nun möchte ich wissen, ob deine Zeit es dir erlaubt, dich mit mir zu treffen - vielleicht auf ein Essen bei mir zu Hause -, denn ich brauche dringend Hilfe, und ich glaube, du bist der einzige Mensch, den ich kenne (oder kannte), der sie mir gewähren kann. Ich sage das nicht, um dich zu beunruhigen, sondern wegen meiner grenzenlosen Bewunderung für die Bücher, die du geschrieben hast - und die mich so stolz auf dich gemacht haben, stolz, dass ich dich einmal zu meinen Freunden zählen durfte.
Gewissermaßen zur Vorbereitung lege ich den noch nicht fertigen Entwurf des ersten Kapitels eines Buches bei, das ich zu schreiben versuche. Ich möchte daran weiterarbeiten, scheine aber in meinem Kampf und meiner Unsicherheit - Angst ist vielleicht das Wort, nach dem ich suche - gegen eine Wand gelaufen zu sein, und ich hoffe, ein Gespräch mit dir kann mir den Mut geben, sie zu überwinden oder einzureißen. Ich sollte hinzufügen (falls du daran zweifelst), dass es sich nicht um eine erfundene Geschichte handelt.
Auf die Gefahr hin, melodramatisch zu erscheinen, sollte ich auch noch hinzufügen, dass es mir nicht gutgeht, dass ich, um ganz genau zu sein, langsam an Leukämie sterbe und mit etwas Glück vielleicht noch ein Jahr durchhalten werde. Nur damit du weißt, worauf du dich einlässt, falls du dich denn entschließt, dich darauf einzulassen. Ich sehe zum Gruseln aus (keine Haare!, völlig abgemagert!), aber für Eitelkeit ist kein Platz mehr in meiner Welt, und ich habe mein Bestes getan, mich in das zu schicken, was da mit mir passiert, auch wenn ich mich natürlich weiter behandeln lasse. Vor zwei Jahrhunderten galt man mit sechzig als alter Mann, und da keiner von uns geglaubt hat, wir würden auch nur die dreißig überschreiten, ist es doch gar nicht mal schlecht, das Doppelte davon erreicht zu haben, was?
Ich könnte noch mehr schreiben, möchte aber deine Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Der Entschluss, dir dieses Manuskript zu schicken, ist mir nicht leichtgefallen (sicher bombardieren dich zahllose Spinner und Möchtegernschriftsteller mit Briefen), aber ich werde dir gern von meinem Auf und Ab in den vergangenen vier Jahrzehnten berichten, falls du dich entschließt, meine Einladung anzunehmen - was ich inbrünstig hoffe. Was das MS betrifft, spar es dir für den Flug nach Kalifornien auf, wenn du bis dahin zu beschäftigt bist. Es ist so kurz, dass man es in weniger als einer Stunde lesen kann.
In Hoffnung auf eine Antwort,
in alter Solidarität, dein
Adam Walker
Wir waren nicht
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