Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
aus?
    Phantastisch. Ein kleiner Rückschlag vorigen Monat, aber jetzt ist alles wieder gut, und ich habe gearbeitet wie ein Verrückter. Ich möchte, dass du das weißt.
    An dem Buch gearbeitet?
    An dem Buch gearbeitet.
    Du kommst also wieder voran.
    Deswegen rufe ich an. Um dir für deinen letzten Brief zu danken.
    Du bist die Sache von einer anderen Seite aus angegangen?
    Ja, und das hat sehr geholfen. Das sind gute Nachrichten.
    Hoffentlich. Leider alles ziemlich brutal. Hässliche Dinge, jahrelang hatte ich weder den Mut noch den Willen, mich damit zu beschäftigen, aber jetzt habe ich es geschafft und stecke schon in den Planungen für das dritte Kapitel.
    Das zweite ist demnach abgeschlossen?
    Ein Entwurf. Vor zehn Tagen bin damit fertig geworden.
    Warum hast du es mir nicht geschickt?
    Weiß nicht. Zu nervös, nehme ich an. Zu unsicher.
    Mach dich nicht lächerlich.
    Ich dachte, ich sollte vielleicht warten, bis ich mit dem Ganzen fertig bin, bevor ich es dir schicke.
    Nein, nein, schick mir den zweiten Teil sofort. Dann können wir darüber reden, wenn wir uns nächste Woche in Oakland sehen.
    Vielleicht willst du nicht mehr kommen, wenn du das gelesen hast.
    Wie meinst du das jetzt?
    Es ist ekelhaft, Jim. Ich könnte jedes Mal kotzen, wenn ich daran denke.
    Schick's mir trotzdem. Egal, was ich davon halte, ich verspreche dir, ich werde nicht von unserer Verabredung abspringen. Ich möchte dich wiedersehen.
    Ich dich auch.
    Gut. Also abgemacht. Am fünfundzwanzigsten um sieben Uhr.
    Du bist sehr freundlich zu mir gewesen.
    Ich habe doch gar nichts getan.
    Mehr, als du weißt, mein Lieber, mehr, als du weißt.
    Und pass bis dahin auf dich auf, ja?
    Ich werde mir Mühe geben.
    Also dann, am fünfundzwanzigsten.
    Ja, am fünfundzwanzigsten. Punkt sieben.

    Erst als wir aufgelegt hatten, wurde mir bewusst, wie beunruhigend dieses Gespräch für mich gewesen war. Zum einen war ich mir sicher, dass Walker mich über seinen Gesundheitszustand angelogen hatte - es ging ihm nicht gut, überhaupt nicht gut, und zweifellos von Minute zu Minute schlechter -, und obwohl es durchaus verständlich war, dass er mir die Wahrheit verschweigen wollte, dass er kein Mitleid von mir erheischen und die Sache mit der falschen Munterkeit des Stoikers (Phantastisch!) durchstehen wollte, spürte ich gleichwohl (und das ist schon ziemlich paradox) etwas wie Selbst mitleid in seinen Worten, als hätte er von Anfang bis Ende unseres Gesprächs mit den Tränen gekämpft, als hätte er seinen ganzen Willen aufbieten müssen, um Fassung zu bewahren und nicht ins Telefon zu weinen. Sein physischer Zustand gab schon Anlass zu großer Sorge, aber jetzt sorgte ich mich nicht weniger um seine psychische Verfassung. An manchen Stellen unseres Gesprächs hatte er sich angehört wie ein Mann am Rande eines seelischen Zusammenbruchs, ein Mann, der sich nur noch mit ein paar ausgefransten Fäden und Draht zusammenhielt. War es möglich, dass die Arbeit an dem neuen Kapitel seines Buchs ihn dermaßen erschöpft hatte? Oder war das nur eine von mehreren, von vielen Ursachen? Immerhin würde Walker bald sterben, und vielleicht war ihm allein schon die Tatsache seines bevorstehenden Todes, der zermürbende Horror dieses bevorstehenden Todes zu viel geworden. Andererseits konnte das Zittern und Weinerliche in seiner Stimme genauso gut die Nebenwirkung eines Medikaments sei, das er nehmen musste, unerwünschte Reaktion auf irgendein Zeug, das ihn am Leben erhielt. Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts, aber nach der scharfsichtigen, offenen Beschreibung seiner selbst im ersten Teil des Buchs und den beiden wortgewandten und mutigen Briefen, die er mir geschickt hatte, war ich doch ein wenig verblüfft, wie anders er im direkten Gespräch auf mich wirkte. Ich fragte mich, wie es wohl sein würde, einen Abend in seiner Gesellschaft zu verbringen, eingeschlossen in die private Welt seines schwindenden, verwüsteten Ichs, und zum ersten Mal, seit ich seine Einladung angenommen hatte, begann ich mich vor unserer Begegnung zu fürchten.
    Zwei Tage nach dem Telefonat wurde der zweite Teil des Buchs in einem FedEx-Umschlag bei mir zu Hause abgeliefert. In einem kurzen Begleitschreiben teilte Walker mir mit, er habe nun endlich einen Titel gefunden, 1967, und die einzelnen Kapitel sollten als Überschrift jeweils den Namen einer Jahreszeit bekommen. Der erste Teil heiße Frühling, der Teil, den er mir jetzt schicke, Sommer, und der Teil, an dem er jetzt

Weitere Kostenlose Bücher