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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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arbeite, werde Herbst heißen. Er hatte mir am Telefon schon von dem neuen Text erzählt, und die Worte brutal, hässlich und ekelhaft noch frisch im Gedächtnis, machte ich mich auf etwas höchst Entsetzliches gefasst, auf eine Geschichte, die noch unerbittlicher und verstörender wäre als Frühling.

    SOMMER

    Aus Frühling wird Sommer. Für dich ist es der Sommer nach dem Frühjahr des Rudolf Born, für den Rest der Welt aber ist es der Sommer des Sechstagekriegs, der Sommer der Rassenunruhen in mehr als hundert amerikanischen Städten, der Summer of Love. Du bist zwanzig Jahre alt und hast soeben dein zweites Jahr am College hinter dich gebracht. Als der Krieg im Nahen Osten ausbricht, überlegst du, ob du in die israelische Armee eintreten und Soldat werden solltest, dabei bist du erklärter Pazifist und hast niemals das geringste Interesse am Zionismus bekundet, doch bevor du einen Entschluss fassen und irgendwelche Pläne machen kannst, ist der Krieg plötzlich zu Ende, und du bleibst in New York.
    Dennoch spürst du das starke Bedürfnis, das Land zu verlassen, irgendwo anders zu sein als dort, wo du jetzt bist, und daher hast du bereits den Dean aufgesucht und ihm gesagt, du möchtest ein Jahr lang im Ausland studieren (nach einer langwierigen Debatte mit deinem Vater, der schließlich widerwillig zugestimmt hat). Du hast dich für Paris entschieden. Dorthin gehst du nicht nur, weil dir Paris, wo du zum ersten Mal vor zwei Jahren warst, besonders am Herzen liegt, sondern auch, weil du dein Französisch vervollkommnen willst, das zwar schon ganz gut ist, aber noch besser sein könnte. Du bist dir bewusst, dass Born in Paris lebt, zumindest nimmst du das an, kommst aber nach reiflicher Überlegung zu dem Ergebnis, dass die Chance, ihm dort zufällig zu begegnen, überaus klein ist. Und falls das Unwahrscheinliche doch eintreten sollte, fühlst du dich gewappnet, den Umständen entsprechend darauf zu reagieren. Was soll so schwer daran sein, sich einfach abzuwenden und an ihm vorbeizugehen? Das jedenfalls versuchst du dir einzureden, aber im tiefsten Inneren malst du dir Szenen aus, in denen du dich nicht von ihm abwendest, in denen du ihn mitten auf der Straße zur Rede stellst und mit bloßen Händen erwürgst.
    Du lebst in einer Zweizimmerwohnung in einem Gebäude an der 107th Street zwischen Broadway und Amsterdam Avenue. Dein Mitbewohner hat sein Examen gemacht und zieht aus der Stadt, und da du es dir nicht leisten kannst, allein in der Wohnung zu bleiben, hast du das zweite Zimmer deiner Schwester überlassen - denn wie der Zufall es wollte, ist ihre Zeit in Vassar abgelaufen, und jetzt will sie an der Anglistischen Fakultät der Columbia mit ihrer Promotion anfangen. Du und deine Schwester habt euch immer gut verstanden - ihr wart Freunde, Verschwörer, besessene Hüter des Andenkens an euren toten Bruder, beide von Literatur begeistert, Vertraute -, und die neue Konstellation gefällt dir sehr. Auch wenn sie nur den einen Sommer Bestand haben soll, denn im September wirst du nach Paris abheben, aber den halben Juni, den ganzen Juli und August werdet ihr zusammen sein, zum ersten Mal seit Jahren wieder unter einem Dach leben. Wenn du weg bist, wird deine Schwester den Mietvertrag übernehmen und jemand anderen finden, der in deinem dann leeren Zimmer wohnen kann.
    Deine Familie ist wohlhabend, wenn auch nicht sehr wohlhabend, nicht reich nach den Maßstäben der Reichen, und mag dein Vater auch so großzügig sein, dir ein Taschengeld zur Befriedigung deiner Grundbedürfnisse zu zahlen, so brauchst du doch zusätzliches Geld für die Bücher und Schallplatten, die du dir anschaffen, für die Filme, die du sehen, für die Zigaretten, die du rauchen willst, und daher siehst du dich nach einem Job für den Sommer um. Deine Schwester hat für sich schon einen gefunden. Sie ist nur sechzehn Monate älter als du, aber schon immer ist sie im Verkehr mit der Welt vernünftiger und besonnener gewesen, und kaum wusste sie, dass sie an der Columbia studieren und eine Wohnung in der 107th Street mit dir teilen konnte, machte sie sich auf die Suche nach einem Job, der mit ihren Interessen und Talenten vereinbar war. Folglich ist alles im Voraus geregelt, und sobald sie in New York eintrifft, beginnt sie ihre Arbeit als Lektoratsassistentin bei einem großen Verlag in Midtown. Du hingegen, planlos und unüberlegt wie eh und je, verschiebst die Suche auf die letzte Minute, und da du nichts davon hältst, mit einer

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