Unsichtbar
als ich die einzige Frau kennenlernte, die mir jemals wirklich etwas bedeutete, eine Sozialarbeiterin namens Sandra Williams - richtig, derselbe Nachname wie der des ermordeten Jungen, ein Sklavenname, ein weitverbreiteter Sklavenname, den Hunderttausende, wenn nicht Millionen Afroamerikaner tragen -, und obwohl eine Ehe zwischen Schwarz und Weiß dem Paar (von beiden Seiten) vielfältige gesellschaftliche Probleme bescheren kann, habe ich darin nie einen Hinderungsgrund gesehen, denn die Wahrheit war, dass ich Sandra geliebt habe, vom ersten bis zum letzten Tag. Eine kluge Frau, eine tapfere Frau, eine temperamentvolle und schöne Frau, nur sechs Monate jünger als ich, schon einmal verheiratet gewesen (und geschieden), als wir uns begegneten, mit einer zwölfjährigen Tochter, Rebecca, meine Stieftochter, die inzwischen selbst verheiratet und Mutter von zwei Kindern ist, und die neunzehn Jahre, die ich mit Sandra verbringen durfte, haben mich zu etwas Besserem gemacht, als ich vorher war, besser, als wenn ich allein oder mit irgendwem anders gelebt hätte, und jetzt, da sie tot ist (vor fünf Jahren an Gebärmutterhalskrebs gestorben), vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht nach ihr sehne. Mein einziger Kummer ist nur, dass wir keine gemeinsamen Kinder haben konnten, aber eine Familie zu gründen liegt nicht in der Macht eines Mannes, von dem sich herausstellt, dass er von Geburt an unfruchtbar war.
Was soll ich noch sagen? Meine Haushälterin (die das Abendessen kochen wird, wenn du mich besuchst) sorgt gut für mich, Rebecca und ihre Familie sehe ich regelmäßig, mit meiner Schwester telefoniere ich fast täglich, ich habe viele Freunde. Wenn mein Zustand es zulässt, verschlinge ich immer noch ein Buch nach dem anderen (Gedichte, Historisches, Romane, darunter auch deine - unmittelbar nach Erscheinen), interessiere mich immer noch sehr für Baseball (eine unheilbare Krankheit) und flüchte mich gelegentlich in die Traumwelt des Films (vermittels eines DVD-Players - ein treuer Freund der Einsamen und Eingeschlossenen dieser Welt). Aber meistens denke ich an die Vergangenheit, an die alten Zeiten, an das Jahr 1967 (wie lange ist das her), als mir so vieles passierte, in mir und um mich herum passierte, die unerwarteten Wendungen und Entdeckungen dieses Jahres, den Wahnsinn dieses Jahres, das mich in das Leben stieß, das ich seither lebe, im Guten wie im Schlechten. Es geht nichts über eine tödliche Krankheit, wenn es gilt, das Denken zu schärfen, wenn es gilt, Bilanz zu ziehen und eine Endabrechnung vorzulegen. Das Buch soll drei Teile haben, drei Kapitel. Kein langes Buch, kein kompliziertes Buch, aber richtig soll es sein, und dass ich jetzt mitten im zweiten Teil steckengeblieben bin, bringt mich schier um den Verstand. Sei beruhigt, ich erwarte nicht von dir, dass du das Problem für mich löst. Aber ich habe den Verdacht, den vielleicht grundlosen Verdacht, dass ein Gespräch mit dir mir den Tritt in den Hosenboden geben könnte, den ich brauche. Jenseits - und diesseits - davon, das heißt, jenseits und diesseits meiner unbedeutenden Beschwernisse wird es mir ein ungeheures Vergnügen sein, dich wiederzusehen ...
Ich hatte auf Nachricht von ihm gehofft, aber niemals hätte ich gedacht, dass er mir mehr als ein paar Absätze schreiben würde, dass er bereit wäre, so viel Zeit und Mühe aufzuwenden, um einen derart ausführlichen Bericht abzufassen - für mich, der ich zu diesem Zeitpunkt kaum mehr als ein Fremder für ihn war. Ob er wirklich viele Freunde hat oder nicht, auf jeden Fall, dachte ich, ist er einsam und ziemlich verzweifelt, und während ich immer noch nicht begriff, warum er ausgerechnet mich zu seinem Beichtvater bestimmt hatte, hatte er sich mir schon auf eine Weise aufgedrängt, dass es mir geradezu undenkbar erschien, nicht für ihn zu tun, was in meinen Kräften stand. Wie schnell das Wetter umschlagen kann. Ein sterbender Freund war nach einer Abwesenheit von nahezu vierzig Jahren wieder in mein Leben getreten, und plötzlich fühlte ich mich verpflichtet, ihn nicht im Stich zu lassen. Aber wie konnte ich ihm helfen? Er hatte Schwierigkeiten mit seinem Buch, und aus irgendeinem unerfindlichen Grund bildete er sich ein, ich verfügte über die Macht, die Zauberworte auszusprechen, die ihn wieder auf die Beine brachten. Erwartete er von mir ein Rezept für eine Pille, die in eine Sackgasse geratene Schriftsteller von ihrer Schreibblockade befreite? War das alles, was er von mir
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