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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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aber im Großen und Ganzen war das Ergebnis nur mittelmäßig, und die Aussicht, mein Leben im Mittelmaß zu verbringen, erschreckte mich so sehr, dass ich Schluss machte.
    Die Londoner Jahre. Die düsteren Offenbarungen vereitelter Hoffnungen, liebloser Sex in den Betten von Prostituierten, eine ernsthafte Liaison mit einer Engländerin namens Dorothy, die jäh zu Ende ging, als sie erfuhr, dass ich Jude bin. Aber ob du's glaubst oder nicht, so finster sich das alles für dich anhören muss: Ich denke, ich wurde in dieser Zeit stärker, begann endlich erwachsen zu werden und die Verantwortung für mein Leben zu übernehmen. Im Juni 1973 schrieb ich mein letztes Gedicht, verbrannte es feierlich in der Küchenspüle und ging nach Amerika zurück. Ich hatte mir geschworen, erst zurückzukehren, wenn der letzte amerikanische Soldat Vietnam verlassen hätte, aber jetzt hatte ich einen neuen Plan und keine Zeit mehr für solch edelmütigen Unsinn. Ich wollte an die Front gehen und den Kampf mit bloßen Fäusten austragen. Tschüs, Literatur. Willkommen im Eigentlichen, im Bewusstsein der Wirklichkeit.
    Berkeley, Kalifornien. Drei Jahre Jurastudium. Der Plan war: Gutes zu tun, für die Armen und Unterdrückten zu arbeiten, mich für die Verachteten und die Unsichtbaren einzusetzen und zu versuchen, sie gegen die Grausamkeit und Gleichgültigkeit der amerikanischen Gesellschaft zu verteidigen. Auch nur wieder edelmütiger Unsinn? Man mag das so sehen, aber ich habe es nie so empfunden. Erst Poesie, nun also Gerechtigkeit. Poetische Gerechtigkeit, wenn man so will. Denn die traurige Tatsache bleibt: Es gibt viel mehr Gedichte auf der Welt als Gerechtigkeit.
    Seit meine Krankheit mich gezwungen hat, mit der Arbeit aufzuhören, hatte ich reichlich Zeit, über die Motive nachzudenken, die mich zu diesem Leben bewogen haben. Sehr konkret begann es wohl an jenem Abend im Jahr 1967, als ich Zeuge wurde, wie Born Cedric Williams ein Messer in den Bauch stieß - und wie er ihn dann, während ich nach einem Krankenwagen telefonierte, in den Park trug und ermordete. Ohne Grund, ohne jeden Grund, und wie er dann, noch schlimmer, damit davonkam, sich aus dem Land stahl und nie für sein Verbrechen bestraft wurde. Ich kann gar nicht stark genug betonen, wie furchtbar mich das mitnahm und noch heute mitnimmt. Dieser Verrat an der Gerechtigkeit. Mein Zorn und meine Enttäuschung sind unvermindert, und wenn ich so empfinde, wenn es dieses Gerechtigkeitsgefühl ist, das so hell in mir lodert, dann bin ich sicher, dass ich für mich den richtigen Weg gewählt habe.
    Siebenundzwanzig Jahre Arbeit als Rechtsbeistand für Arme, Engagement für die Schwarzen in Oakland und Berkeley, Mietstreiks, Sammelklagen gegen diverse Konzerne, Prozesse gegen brutale Polizisten - die Liste lässt sich fortsetzen. Am Ende habe ich wohl nicht viel erreicht. Eine Reihe befriedigender Siege, gewiss, aber dieses Land ist heute nicht weniger grausam als damals, womöglich grausamer denn je, und doch wäre es mir unmöglich gewesen, gar nichts zu tun. Dann hätte ich das Gefühl gehabt, mir selbst gegenüber unehrlich zu sein.
    Spreche ich wie ein selbstgefälliger Schnösel? Hoffentlich nicht.
    Die Einkünfte waren natürlich mager. Von solcher Arbeit, wie ich sie geleistet habe, wird man nicht reich. Aber mir - mir und meiner Schwester - fiel nach dem Tod unserer Eltern (Mutter 1974, Vater 1976) das Familienvermögen in den Schoß. Wir verkauften das Haus und den Supermarkt meines Vaters für eine beträchtliche Summe, und Gwyn, clever und praktisch veranlagt, wie sie ist, legte das Geld so gut an, dass ich immer genug zum Leben hatte (bescheiden, aber sorgenfrei), ohne mich allzu sehr darum kümmern zu müssen, was meine Arbeit mir eintrug. Das System von innen heraus verändern. Eine kleine feine Heuchelei, nehme ich an, aber jeder braucht etwas zu essen auf dem Tisch, jeder braucht ein Dach überm Kopf. Leider haben Arztrechnungen meine Ersparnisse in den letzten Jahren ernstlich angegriffen, aber ich denke, es wird noch reichen, bis ich das Zeitliche segne - vorausgesetzt, ich mache es nicht mehr allzu lange, was eher wahrscheinlich ist.
    Was Herzensdinge anbelangt, bin ich auf meine unbeholfene, beschränkte Art viele Jahre lang, allzu viele Jahre lang nur umhergetaumelt, durch diverse Betten gekrochen, in diverse Frauen verliebt gewesen, ohne dass ich je in Versuchung geriet, zu heiraten und sesshaft zu werden; das widerfuhr mir erst mit sechsunddreißig,

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