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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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wollte? Das kam mir so dürftig vor, so peinlich daneben. Walker war ein intelligenter Mensch, und wenn sein Buch geschrieben werden musste, würde er auch einen Weg finden, das zu tun.
    In diesem Sinne antwortete ich ihm dann auch. Ich fiel nicht mit der Tür ins Haus, denn zunächst hatte ich andere Dinge anzusprechen (mein Bedauern über den Tod seiner Frau, mein Erstaunen über seine Berufswahl, meine Bewunderung für die Arbeit, die er geleistet, und die Kämpfe, die er ausgefochten hatte), aber nachdem ich das alles hinter mir hatte, erklärte ich ihm ziemlich unverblümt, er werde sich ganz sicher allein aus der Patsche zu helfen wissen. Angst ist etwas Gutes, fuhr ich fort und griff damit das Wort auf, das er in seinem ersten Brief verwendet hatte, Angst treibt uns an, etwas zu riskieren und über unsere Grenzen hinauszugehen, und ein Schriftsteller, der sich auf festem Boden wähnt, wird sehr wahrscheinlich nichts von Bedeutung hervorbringen. Zu der von ihm erwähnten Wand bemerkte ich, dass jeder an solche Wände stößt, und gar nicht einmal so selten liegt die Ursache dafür, dass man nicht weiterkommt, in einem Denkfehler - soll heißen, der Autor weiß selbst nicht genau, was er eigentlich sagen will, oder, präziser gesagt, er nähert sich seinem Thema von der falschen Seite. Um das an einem Beispiel zu erläutern, erzählte ich ihm von den Problemen, mit denen ich mich bei der Arbeit an einem meiner ersten Bücher zu plagen hatte - auch dies war (gewissermaßen) autobiographisch und sollte aus zwei Teilen bestehen. Teil eins war in der ersten Person geschrieben, und als ich mit Teil zwei anfing (der unmittelbarer mit mir zu tun hatte als der erste Teil), schrieb ich weiter in der ersten Person, war aber immer weniger mit dem Ergebnis zufrieden und hörte schließlich auf. Die Unterbrechung dauerte mehrere Monate (schwierige Monate, qualvolle Monate), und eines Nachts flog mir die Lösung zu. Ich hatte mich, wurde mir klar, der Sache von der falschen Seite genähert. Indem ich von mir selbst in der ersten Person schrieb, hatte ich mich lahmgelegt, mich unsichtbar gemacht, mir die Möglichkeit genommen, das zu finden, wonach ich suchte. Ich musste mich von mir trennen, einen Schritt zurücktreten und ein wenig Raum zwischen mich und meinen Gegenstand (der ich selbst war) bringen, und so begann ich Teil zwei noch einmal von vorn und schrieb ihn in der dritten Person. Aus ich wurde er, und die durch diese kleine Verschiebung geschaffene Distanz erlaubte mir, das Buch fertig zu schreiben. Vielleicht leide er (Walker) an demselben Problem, deutete ich an. Vielleicht sei er seinem Gegenstand zu nahe. Vielleicht gehe ihm der Stoff so sehr an die Nieren, dass er in der ersten Person nicht mit der angemessenen Objektivität darüber schreiben könne. Was er davon halte? Ob er eine Chance sehe, mit einer anderen Sichtweise wieder in Schwung zu kommen?
    Als ich den Brief abschickte, waren es noch sechs Wochen bis zu meiner Reise nach Kalifornien. Walker und ich hatten bereits einen festen Termin für unser Abendessen vereinbart, er hatte mir eine Wegbeschreibung zu seinem Haus geschickt, und ich rechnete nicht damit, dass er mir vor meiner Abreise noch einmal schreiben würde. Ein Monat verging, vielleicht ein wenig mehr, und plötzlich, als ich es am wenigsten erwartete, meldete er sich wieder. Diesmal nicht brieflich, sondern telefonisch. Seit unserem letzten Gespräch waren Jahre vergangen, aber ich erkannte seine Stimme sofort - und doch (wie soll ich das ausdrücken?) war es nicht ganz dieselbe Stimme, die ich in Erinnerung hatte, oder es war dieselbe, nur dass ihr etwas hinzugefügt oder etwas abgezogen war, dieselbe Stimme in leicht veränderter Tonlage: Walker entrückt von sich und der Welt, hinfällig, krank, seine Stimme gedämpft, müde, mit einem kaum wahrnehmbaren Zittern in jedem einzelnen Wort, das er sprach, als müsse er alle seine Kräfte zusammennehmen, um die Luft durch den Kehlkopf ins Telefon zu stoßen.
    Hallo, Jim, sagte er. Hoffentlich störe ich dich nicht beim Essen.
    Überhaupt nicht, antwortete ich. Wir fangen erst in zwanzig, dreißig Minuten damit an.
    Gut. Also Zeit für einen Cocktail, nehme ich an. Vorausgesetzt, du trinkst noch.
    Ich trinke noch. Wir sind gerade dabei. Meine Frau und ich haben eben eine Flasche Wein aufgemacht, und während das Huhn im Ofen schmort, trinken wir uns einen an.
    Die Freuden des häuslichen Lebens.
    Und was ist mit dir? Wie sieht es bei dir

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