Unsichtbar
dass die Dewey-Dezimalzahl des einzusortierenden Buchs um ein Geringes höher als die des Buchs links davon und ein Geringes niedriger ist als die des Buchs rechts davon. Die Bücher, jeweils etwa fünfzig bis hundert Stück, sind auf einem mit vier Rädern versehenen Holzkarren gestapelt, und während du das kleine Vehikel durch die labyrinthischen Magazine schiebst, bist du allein, immer und ewig allein, denn außer dem Bibliothekspersonal hat niemand Zutritt zu den Magazinen, und die einzigen Menschen, die du zu sehen bekommst, sind deine Laufburschenkollegen am Tisch vor dem Lastenaufzug. Die einzelnen Etagen sind einander vollkommen gleich: unermessliche fensterlose Räume mit dicht an dicht aufgestellten Reihen hoch aufragender grauer Metallregale, ein jedes bis zum letzten Platz mit Büchern vollgestopft, Tausenden von Büchern, Zehntausenden von Büchern, Hunderttausenden von Büchern, Millionen von Büchern, und zuweilen reagierst selbst du, der du Bücher liebst wie kaum jemand auf dieser Erde, mit Bestürzung, Panik oder gar Ekel bei der Vorstellung, wie viele Milliarden Wörter, wie viele Billionen Wörter in all diesen Büchern stehen. Täglich bist du stundenlang von der Welt abgeschnitten, bewohnst, so empfindest du es, eine luftlose Blase, auch wenn es Luft sein muss, was du atmest, aber es ist tote Luft, Luft, die sich seit Jahrhunderten nicht bewegt hat, und in dieser erstickenden Umgebung fühlst du dich nicht selten benommen, betäubt bis fast zur Bewusstlosigkeit und musst gegen den Drang ankämpfen, dich einfach auf den Fußboden zu legen und zu schlafen.
Und doch, manchmal führt das Einsortieren zu unerwarteten Entdeckungen, und die Wolke der Langeweile, die dich umhüllt, hebt sich für einige Augenblicke. Zum Beispiel stößt du einmal auf eine 1670er Ausgabe von Paradise Lost. Es ist zwar nicht der Erstdruck von 1667, aber doch sehr nahe dran, ein Exemplar, das noch zu Miltons Lebzeiten aus der Presse kam, ein Buch, das der Dichter theoretisch selbst in der Hand gehalten haben kann, und du staunst, dass dieses kostbare Stück nicht in einem temperaturgeregelten Tresor für seltene Bücher lagert, sondern ungeschützt und einfach so in diesen muffigen Regalen herumsteht. Warum ist diese Entdeckung dir so wichtig, warum zittern deine Hände, als du das Buch aufschlägst und darin zu lesen beginnst? Weil du dich seit Monaten in John Milton vertieft hast, weil du Milton gründlicher studiert hast als jeden anderen Dichter, den du jemals gelesen hast. Im qualvollen Frühjahr des Rudolf Born warst du einer der Studenten, die sich bei Edward Tayler eingeschrieben hatten, für die berühmte Milton-Veranstaltung des besten Professors, den du in diesem Jahr gehört hast; du hast seine Vorlesungen und Seminare besucht und dich sorgfältig durch Areopagitica, Paradise Lost, Paradise Regained, Samson Agonistes und eine Unzahl kleinerer Werke geackert, und jetzt, da du Milton liebst und bewunderst und ihn über alle anderen Dichter seiner Epoche stellst, wirst du, als du bei deinen düsteren Gängen durch die Magazine der Butler Library zufällig auf dieses Buch stößt, dieses dreihundert Jahre alte Buch, von einem jähen Glücksgefühl überwältigt.
Leider kommen solche Glücksmomente nicht häufig vor. Nicht dass du mit deinem Job in der Bibliothek besonders unglücklich bist, aber im Lauf der Zeit, je mehr Stunden du bei diesem Tun verbringst, fällt es dir zunehmend schwerer, dich auf das zu konzentrieren, was deines Amtes ist, so anspruchslos diese Aufgaben auch sein mögen. Ein Gefühl von Unwirklichkeit beschleicht dich jedes Mal, wenn du in diese stillen Gänge trittst, das Gefühl, du seist gar nicht wirklich da, du seist in einem Körper gefangen, der dir nicht mehr gehört. Und so geschieht es, dass du eines Nachmittags, nur zwei Wochen nachdem du mit dem einzigen hundertprozentig zufriedenstellenden Prüfungsergebnis in den Annalen des Laufburschentums diesen Job ergattert hast, als ein Auftrag dich in einen Gang mit Werken zur Geschichte Deutschlands im Mittelalter führt, beinahe zu Tode erschreckst, als dir plötzlich jemand von hinten auf die Schulter klopft. Instinktiv fährst du herum, um die Person zu stellen, die dich berührt hat - zweifellos jemand, der sich unbemerkt in die Tabuzone geschlichen hat, um den erstbesten, den er dort antrifft, anzugreifen und/oder auszurauben -, und zu deiner großen Erleichterung erblickst du Mr. Goines, der dich mit trauriger Miene betrachtet.
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