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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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und dabei waren wir einfach nur bekloppt.
    Wieder siehst du deiner Schwester in die Augen, und du spürst, sie möchte über das große Experiment reden, ein Thema, dem ihr beide seit Jahren aus dem Weg gegangen seid. Lohnt es sich, jetzt davon anzufangen, überlegst du, oder solltest du das Gespräch auf ein anderes Thema lenken? Bevor du zu einer Entscheidung kommst, sagt sie:
    Ich meine, was wir in dieser Nacht getan haben, war vollkommener Wahnsinn.
    Findest du?
    Du nicht?
    Nicht so direkt. Mein Schwanz war noch eine Woche danach ganz wund, aber für mich ist das immer noch die beste Nacht meines Lebens.
    Gwyn lächelt, entwaffnet von deiner unbekümmerten Einstellung zu etwas, das von den meisten Menschen für ein Verbrechen gegen die Natur gehalten wird, für eine Todsünde. Sie sagt: Du hast keine Schuldgefühle?
    Nein. Ich habe mich damals schuldlos gefühlt, und ich fühle mich auch jetzt schuldlos. Ich habe immer gedacht, dir geht es genauso.
    Ich will mich schuldig fühlen. Ich sage mir, ich sollte Schuldgefühle haben, aber die Wahrheit ist, ich habe keine. Deswegen denke ich ja, dass wir wahnsinnig waren. Weil wir das ohne Narben überstanden haben.
    Schuldig kann man sich nur fühlen, wenn man denkt, man habe etwas Unrechtes getan. Was wir in dieser Nacht getan haben, war nichts Unrechtes. Wir haben uns zu nichts gezwungen, was wir nicht wollten. Wir sind nicht zum Äußersten gegangen. Wir waren Kinder, wir haben nur ein bisschen herumexperimentiert. Und ich bin froh, dass wir das getan haben. Ehrlich gesagt bedaure ich nur, dass wir es nicht wieder getan haben.
    Ach. Dann hast du also dasselbe gedacht wie ich.
    Warum hast du mir nie etwas gesagt?
    Wahrscheinlich, weil ich Angst hatte. Zu große Angst, dass wir in echte Schwierigkeiten geraten könnten, wenn wir damit weitermachen würden.
    Also hast du dir stattdessen einen Freund gesucht. Dave Cryer, den König der Tiere.
    Und du hast dich in Patty French verknallt.
    Schnee von gestern, Genossin.
    Ja, das alles ist jetzt Schnee von gestern, oder?

    Du und deine Schwester sprecht also von der Vergangenheit, von der stummen Ehe eurer Eltern, von eurem toten Bruder und der kindischen Posse, die ihr beide vor Jahren in den Frühjahrsferien geschrieben habt, aber diese Dinge nehmen nur einen kleinen Bruchteil der Zeit in Anspruch, die ihr miteinander verbringt. Ein weiterer Bruchteil ist kurzen Gesprächen über Haushaltsangelegenheiten gewidmet (einkaufen, putzen, kochen, Miete und Nebenkosten bezahlen), die meisten Worte jedoch, die ihr in diesem Sommer wechselt, handeln von Gegenwart und Zukunft, vom Krieg in Vietnam, von Büchern und Schriftstellern, Dichtern, Musikern und Filmemachern, und dazu kommen die Geschichten, die ihr von euren Jobs mit nach Hause bringt. Du und deine Schwester habt immer miteinander geredet, ihr zwei führt seit frühester Kindheit einen komplexen, nie endenden Dialog, und diese Bereitschaft, euch gegenseitig eure Gedanken und Ideen mitzuteilen, definiert eure Freundschaft wahrscheinlich am besten. Es zeigt sich, dass ihr in den meisten Dingen einer Meinung seid, freilich nicht in allen Dingen, und es macht euch Spaß, eure Meinungsv erschiedenheiten auszurichten. Eure Kabbeleien über die jeweiligen Vorzüge mancher Schriftsteller und Künstler haben jedoch etwas Komisches, da es selten vorkommt, dass es einem von euch gelingt, den anderen dahin zu bringen, seine Meinung zu ändern. Typisches Beispiel: Ihr beide haltet Emily Dickinson für die größte amerikanische Dichterin des neunzehnten Jahrhunderts, aber während du eine Schwäche für Walt Whitman hast, findet Gwyn ihn schwülstig und primitiv und tut ihn als falschen Propheten ab. Du liest ihr eins seiner kürzeren Gedichte vor (The Dalliance of the Eagles), aber sie lässt sich nicht überzeugen und sagt, es tue ihr leid, aber ein Gedicht über Adler, die im Flug miteinander vögeln, lasse sie kalt. Anderes Beispiel: Sie stellt Middlemarch über alle anderen Romane, und als du ihr gestehst, dass du nie über Seite 50 hinausgekommen bist, drängt sie dich, es noch einmal zu versuchen; du tust es, und wieder gibst du auf, bevor du Seite 50 erreicht hast. Anderes Beispiel: Eure Ansichten zum Krieg und zur amerikanischen Politik sind nahezu deckungsgleich, aber da dir, sobald du das College verlässt, die Einberufung droht, äußerst du dich zu diesen Dingen viel lautstärker und hitzköpfiger als sie, und wann immer du eine deiner tobsüchtigen Tiraden gegen Johnson

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