Unsichtbar
Idee, dich selbst in eine Anstalt einzuweisen. Sie ist der einzige Mensch, mit dem du reden kannst, der einzige Mensch, in dessen Gegenwart du spürst, dass du am Leben bist. Und doch, so sehr es dich freut, wieder mit ihr zusammen zu sein, ist dir auch bewusst, dass du sie nicht mit deinen Schwierigkeiten überlasten darfst, dass du nicht von ihr erwarten kannst, sich in die göttliche Chirurgin zu verwandeln, die dir die Brust aufschneidet und dein krankes Herz kuriert. Du musst dir selber helfen. Wenn etwas in dir zerbrochen ist, musst du es mit eigenen Händen wieder zusammensetzen.
Nach vierundzwanzig Stunden düsterer Selbstbeschau lässt die Qual langsam nach. Die Wende beginnt am Samstag, am zweiten Abend des ersten Juliwochenendes, das ihr in Manhattan verbringen wollt. Nach dem Essen fahren du und deine Schwester mit dem Bus 104 den Broadway hinunter zum New Yorker; ihr betretet den kühlen dunklen Raum des Kinos, um euch Carl Dreyers Film Ordet (Das Wort) von 1955 anzusehen. Normalerweise würde dich ein Film über das Christentum und Glaubensfragen nicht interessieren, aber Dreyers Regie ist so präzise und eindringlich, dass du schnell in die Geschichte hineingezogen wirst, die dich mehr und mehr an ein musikalisches Werk erinnert, als sei der Film die Visualisierung einer zweistimmigen Invention von Bach. Die Ästhetik des Luthertums, flüsterst du Gwyn an einer Stelle ins Ohr, aber da sie an deinen Gedanken nicht teilhaben konnte, hat sie keine Ahnung, wovon du redest, und erwidert deine Bemerkung mit einem verdutzten Stirnrunzeln.
Die verwickelte Geschichte muss nicht unbedingt nacherzählt werden. So fesselnd dieses Hin und Her auch sein mag, letztlich ist es auch nur eine Geschichte unter zahllosen anderen, ein Film unter vielen anderen, und ohne den Schluss hätte Ordet dich nicht mehr berührt als jeder andere gute Film, den du im Lauf der Jahre gesehen hast. Aber der Schluss hat es in sich, denn er bewirkt etwas in dir, womit du niemals gerechnet hast, er trifft dich mit der ganzen Gewalt einer Axt, die eine Eiche fällt.
Die Bäuerin, die bei der Geburt ihres Kindes gestorben ist, liegt in einem offenen Sarg, neben ihr sitzt ihr Mann und weint. Der wahnsinnige Bruder, der sich für die Reinkarnation Christi hält, tritt mit der jungen Tochter des Paars an der Hand ins Zimmer. Unter den Blicken der kleinen Gruppe trauernder Verwandter und Freunde, die sich fragen, was für eine Blasphemie nun wohl in diesem feierlichen Augenblick begangen werden mag, spricht der Mann, der sich einbildet, Jesus von Nazareth zu sein, mit ruhiger Stimme den Kopf der Toten an. Steh auf, gebietet er ihr, hebe dich aus deinem Sarg und kehre in die Welt der Lebenden zurück. Gleich darauf beginnen sich die Hände der Toten zu bewegen. Du denkst, das sei eine Halluzination, die Perspektive habe sich von der objektiven Realität zur Wahrnehmung des geistig verwirrten Bruders verschoben. Aber nein. Die Frau öffnet die Augen, und Sekunden später richtet sie sich auf: Sie ist wieder lebendig geworden.
Das Kino ist ziemlich voll, und die Hälfte des Publikums quittiert diese wundersame Wiederauferstehung mit lautem Lachen. Du nimmst den Leuten ihre Skepsis nicht übel, aber für dich ist das ein transzendenter Moment, und du klammerst dich an den Arm deiner Schwester und brichst in Tränen aus. Was nicht geschehen kann, ist geschehen, und dieses Erlebnis bringt dich völlig aus der Fassung.
Danach ändert sich etwas in dir. Du weißt nicht was, aber die Tränen, die du vergossen hast, als die Frau ins Leben zurückkehrte, scheinen etwas von dem Gift weggespült zu haben, das sich in dir angesammelt hatte. Tage vergehen. Manchmal kommt dir der Gedanke, dein kleiner Zusammenbruch im Kino könnte etwas mit deinem Bruder Andy zu tun haben, und wenn nicht mit Andy, dann mit Cedric Williams oder vielleicht mit beiden auf einmal. Zwischendurch aber bist du davon überzeugt, dass irgendeine seltsame sympathetische Überlagerung von Subjekt und Objekt dir vorgegaukelt hat, du habest dich selbst von den Toten auferstehen gesehen. In den nächsten zwei Wochen wird dein Schritt nach und nach weniger schwer. Du hältst dich immer noch für verloren, spürst aber jetzt, dass du an dem Tag, da man dich aufs Schafott führen wird, vielleicht die Kraft aufbringen kannst, zum Abschied noch eine scherzhafte Bemerkung zu machen oder mit deinem vermummten Henker ein paar nette Höflichkeiten auszutauschen.
Seit dem Tod eures Bruders
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