Unsichtbar
zurück.
Ist das so schlimm? Du willst mir doch nicht erzählen, dass du nur schlechte Erinnerungen hast. Das wäre absurd. Absurd und unwahr.
Nein, nein, nicht nur schlechte. Gute und schlechte. Aber das Seltsame ist, wenn ich da bin, drängen sich mir immer die schlechten auf. Wenn ich nicht da bin, sind es meistens die guten.
Warum geht es mir nicht auch so?
Keine Ahnung. Vielleicht, weil du kein Junge bist.
Was macht das für einen Unterschied?
Andy war ein Junge. Wir waren einmal zu zweit, und jetzt bin nur noch ich da - der einzige Überlebende der Katastrophe.
Ach? Besser einer als keiner, Herrgott nochmal.
Es sind ihre Augen, Gwyn, ihre Mienen, wenn sie mich ansehen. Erst habe ich das Gefühl, sie machen mir Vorwürfe. Warum du?, scheinen sie mich zu fragen. Warum lebst du noch und dein Bruder nicht? Und gleich darauf überschwemmen ihre Blicke mich mit Zärtlichkeit, mit besorgter, widerlicher, überängstlicher Liebe. Da könnte ich aus der Haut fahren.
Du übertreibst. Sie machen dir keine Vorwürfe, Adam. Sie sind sehr stolz auf dich, du solltest sie mal reden hören, wenn du nicht dabei bist. Endlose Loblieder auf ihren erfolgreichen Sohn, den Kronprinzen der Walker-Dynastie.
Jetzt übertreibst du.
Nein, eigentlich nicht. Wenn ich dich nicht so gern hätte, wäre ich eifersüchtig.
Ich verstehe nicht, wie du das aushältst. Die beiden zu sehen, meine ich. Immer wenn ich sie sehe, frage ich mich, warum sie noch verheiratet sind.
Weil sie verheiratet sein wollen, darum.
Aber wozu denn? Sie können ja nicht mal mehr miteinander reden.
Sie sind gemeinsam durch die Hölle gegangen, und sie müssen nicht miteinander reden, wenn sie keine Lust dazu haben. Solange sie zusammenbleiben wollen, geht es uns nichts an, wie sie mit ihrem Leben zurechtkommen.
Sie war so eine schöne Frau.
Sie ist immer noch schön.
Sie ist zu traurig, um schön zu sein. Niemand, der so traurig ist, kann noch schön sein.
Du hältst kurz inne, um zu begreifen, was du da gesagt hast. Dann wendest du den Blick von deiner Schwester ab, weil du sie nicht ansehen kannst, während du den nächsten Satz formulierst:
Sie tut mir so leid, Gwyn. Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich sie schon anrufen und ihr sagen wollte, dass alles in Ordnung ist, dass sie jetzt aufhören kann, sich zu hassen, dass sie sich lange genug bestraft hat.
Das solltest du mal machen.
Ich möchte sie nicht beleidigen. Mitleid ist ein so schreckliches, sinnloses Gefühl - man sollte es in sich verschließen und für sich behalten. Wenn man es in Worte zu fassen versucht, macht man alles nur noch schlimmer.
Deine Schwester lächelt dich an, ein wenig unangemessen, findest du, aber als du ihr Gesicht betrachtest und den ernsten, nachdenklichen Ausdruck in ihren Augen bemerkst, erkennst du, sie hat gehofft, dass du so etwas sagst, sie ist erleichtert, dass du nicht ganz so abweisend und kaltherzig bist, wie du dich nach außen hin gibst, dass doch noch so etwas wie Mitgefühl in dir ist. Sie sagt: Okay, kleiner Bruder. Dann bleib in New York und schwitze, wenn du willst. Aber nur zu deiner Information, du könntest ziemlich erstaunliche Entdeckungen machen, wenn du ab und zu mal zu Hause vorbeischauen würdest.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel die Kiste, die ich unter meinem Bett gefunden habe, als ich letztes Mal da war. Was war da drin?
Alles Mögliche. Unter anderem das Stück, das wir zusammen auf der Highschool gespielt haben. Schauerliche Vorstellung ... König Ubu der Zweite. Hast du mal reingesehen? Ich konnte nicht widerstehen. Und?
Nicht grade umwerfend, fürchte ich. Aber ein paar Zeilen waren schon ganz komisch, und bei zwei Szenen habe ich beinahe lachen müssen. Einmal, als Ubu seine Frau verhaften lässt, weil sie bei Tisch gerülpst hat, und dann die Stelle, wo Ubu Amerika den Krieg erklärt, damit er es den Indianern zurückgeben kann.
Pubertäres Gefasel. Aber wir haben uns prächtig amüsiert, oder? Ich weiß noch, wie ich mich vor Lachen auf dem Boden gewälzt habe, bis ich Bauchschmerzen hatte.
Wir haben das damals Satz für Satz abwechselnd geschrieben, glaube ich. Oder immer ganze Reden?
Ganze Reden. Obwohl ich das nicht beschwören würde. Vielleicht täusche ich mich.
Wir waren ganz schön verrückt damals, stimmt's? Wir zwei - einer so verrückt wie der andere. Und kein Mensch hat je etwas vermutet. Alle haben uns für erfolgreiche, gutangepasste Kinder gehalten. Die Leute haben uns bewundert, vielleicht auch beneidet,
Weitere Kostenlose Bücher