Unsichtbar
und seine Regierung vom Stapel lässt, lächelt Gwyn dich nur an, steckt sich die Finger in die Ohren und wartet, dass du endlich aufhörst.
Ihr beide liebt Tolstoi und Dostojewski, Hawthorne und Melville, Flaubert und Stendhal; aber Henry James ist für dich in dieser Phase deines Lebens ein rotes Tuch, wohingegen er für Gwyn der Gigant der Giganten ist, der Koloss, neben dem alle anderen Schriftsteller wie Pygmäen erscheinen. Über die Größe Kafkas und Becketts seid ihr euch vollkommen einig, aber als du sagst, Celine gehöre auch dazu, lacht sie dich aus und nennt ihn einen faschistischen Irren. Wallace Stevens, ja, aber für dich kommt dann als nächster William Carlos Williams, nicht T. S. Eliot, dessen Werke Gwyn auswendig hersagen kann. Du verteidigst Keaton, sie verteidigt Chaplin, aber während ihr beide euch über die Marx Brothers kaputt lacht, kann dein geliebter W. C. Fields ihr nicht einmal ein müdes Lächeln abgewinnen. Truffauts beste Filme sprechen euch beide an, aber Godard ist für Gwyn prätentiös und für dich nicht, und während sie Bergman und Antonioni als die Zwillingsherrscher des Universums besingt, gibst du widerstrebend zu, dass ihre Filme dich langweilen. Keine Konflikte über klassische Musik, Johann Sebastian Bach steht für euch beide ganz oben, aber während du dich zunehmend für Jazz interessierst, begeistert sich Gwyn immer noch für den Rausch des Rock'n'Roll, eine Musik, die dir schon lange nichts mehr bedeutet. Sie tanzt gern, du nicht. Sie lacht mehr als du und raucht weniger. Sie ist freier und glücklicher als du, und wann immer du mit ihr zusammen bist, erscheint die Welt dir heller und einladender, als ein Ort, wo dein mürrisches, introvertiertes Ich sich beinahe zu Hause fühlen könnte.
Die Unterhaltungen gehen den ganzen Sommer lang weiter. Ihr redet über Bücher und Filme und den Krieg, ihr redet über eure Jobs und eure Pläne für die Zukunft, ihr redet über Vergangenheit und Gegenwart, und ihr redet auch über Born. Gwyn weiß, dass du leidest. Sie begreift, dass diese Erfahrung immer noch schwer auf dir lastet, und immer wieder hört sie geduldig zu, wenn du ihr die Geschichte erzählst, immer und immer wieder dieselbe Geschichte, diese Geschichte, die dich nicht loslässt, die sich in deine Seele gefressen hat und zu einem unauslöschlichen Teil deines Wesens geworden ist. Gwyn beschwört dich, du habest richtig gehandelt, du hättest nichts anderes tun können, und du weißt selbst, den Mord an Cedric Williams hättest du nicht verhindern können, aber du weißt auch, dass du mit deinem feigen Zögern, ehe du endlich zur Polizei gegangen bist, Born die Möglichkeit gegeben hast, ungestraft davonzukommen, und das kannst du dir nicht verzeihen. Jetzt ist Freitag, der erste Abend des ersten Juliwochenendes, das ihr in New York verbringen wollt; du und deine Schwester, ihr sitzt am Küchentisch, trinkt euer Feierabendbier und raucht Zigaretten, und wieder einmal dreht sich euer Gespräch um Born.
Ich habe darüber nachgedacht, sagt Gwyn, und ich bin mir ziemlich sicher, die ganze Sache ist ins Rollen gekommen, weil Born sich sexuell zu dir hingezogen gefühlt hat. Das war nicht nur Margot. Das waren die beiden zusammen.
Erschreckt von dieser These deiner Schwester, verstummst du kurz und überlegst, ob daran etwas sein könnte; du quälst dich damit, dein verwickeltes Verhältnis zu Born aus dieser veränderten Perspektive zu betrachten, aber am Ende sagst du nein, das kann nicht sein.
Denk drüber nach, beharrt sie.
Ich denke ja darüber nach, antwortest du. Wenn das stimmen würde, hätte er doch wohl einen Annäherungsversuch gemacht. Hat er aber nicht. Er hat nicht mal versucht, mich anzufassen.
Das spielt keine Rolle. Wahrscheinlich war es ihm selbst gar nicht bewusst. Aber ein erwachsener Mann wirft doch nicht einem zwanzigjährigen Fremden zigtausend Dollar vor die Füße, weil er sich Sorgen um seine Zukunft macht. Das tut er, weil er sich homoerotisch zu ihm hingezogen fühlt. Born war in dich verliebt, Adam. Ob ihm das bewusst war, ist nebensächlich.
Ich bin immer noch nicht überzeugt, aber wo du es jetzt erwähnst, wünsche ich mir geradezu, er hätte einen Annäherungsversuch gemacht. Dann hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen und gesagt, er soll sich zum Teufel scheren, und dann wäre es nie zu dem Spaziergang am Riverside Drive gekommen, und Williams wäre noch am Leben.
Hat so was schon mal jemand bei dir versucht?
Wie bitte?
Ein
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