Unsichtbar
unbequemste Stuhl von ganz Europa, und dem Kleiderschrank fehlt eine Tür, aber von diesen Mängeln einmal abgesehen, ist das Zimmer recht geräumig, zwei Doppelfenster spenden ausreichend Licht, und vom Lärm der Straße ist nichts zu hören. Als der Concierge die Tür aufmacht und ihn zum ersten Mal eintreten lässt, spürt Walker sogleich, das ist ein guter Ort, um Gedichte zu schreiben. Und das ist auf die Dauer das einzig Wichtige. In solchen Zimmern sollten Dichter arbeiten, in Zimmern, die ihren Bewohner zu entmutigen drohen und ihn zu einem ständigen Kampf mit sich selbst zwingen, und als Walker seinen Koffer und die Schreibmaschine am Fußende des Betts abstellt, schwört er sich, täglich mindestens vier Stunden seinem Schreiben zu widmen und sich fleißiger und konzentrierter auf seine Arbeit zu stürzen als je zuvor. Es spielt keine Rolle, dass kein Telefon vorhanden ist, dass die Toilette für alle Bewohner der Etage sich am Ende des Ganges befindet, dass es weder Dusche noch Badewanne gibt, dass alles um ihn herum alt ist. Walker ist jung, und das ist das Zimmer, in dem er sich neu zu erfinden gedenkt.
Zunächst einmal muss er zur Universitätsverwaltung, eine langweilige Besprechung mit dem Betreuer der ausländischen Studenten über sich ergehen lassen, Vorlesungen und Seminare auswählen, Formulare ausfüllen, an einem obligatorischen Mittagessen zum Kennenlernen der anderen teilnehmen, die dieses Jahr in Paris studieren werden. Es sind insgesamt nur sechs (drei Barnard-Mädchen und drei Columbia-Jungen), und auch wenn sie alle einen ernsthaften und freundlichen Eindruck machen und durchaus bereit scheinen, ihn als Mitglied der Clique zu akzeptieren, nimmt Walker sich vor, sich so wenig wie möglich mit ihnen einzulassen. Er hat keine Lust, Teil einer Gruppe zu werden, und schon gar nicht will er seine Zeit damit vergeuden, Englisch zu sprechen. Schließlich ist er in Paris, um sein Französisch zu vervollkommnen. Um das zu tun, wird der scheue und zurückhaltende Walker sich ermannen müssen, Kontakt mit den Einheimischen aufzunehmen.
Einer plötzlichen Regung folgend, beschließt er, Margots Eltern anzurufen. Er weiß noch, die Jouffroys wohnen in der rue de l'Universite im siebenten Arrondissement, nicht allzu weit von seinem Hotel, und er hofft, sie werden ihm sagen können, wo er sie finden kann. Warum er Margot überhaupt wiedersehen möchte, ist eine schwer zu beantwortende Frage, aber fürs Erste denkt Walker nicht darüber nach. Er lebt jetzt seit sechs Tagen in Paris, und die Wahrheit ist, dass er sich ein wenig einsam zu fühlen beginnt. An dem Plan, sich nicht mit seinen Kommilitonen zu verbrüdern, hält er unverbrüchlich fest: Die Vormittage verbringt er an dem wackligen Tisch in seinem Zimmer und schreibt seine neuesten Gedichte um, und wenn ihn schließlich der Hunger auf die Straße treibt, um sich etwas zu essen zu suchen (meist in der Studentenmensa um die Ecke, in der rue Mazet, wo er für ein, zwei Franc ein fades, aber sättigendes Mittagessen bekommt), nachmittags bis zum Abend streift er ziellos in der Stadt herum, stöbert in Buchhandlungen, liest auf Parkbänken, ist nach außen hin ein Teil seiner Umwelt, ohne jedoch bereits wirklich daran teilzunehmen, sucht noch seinen Weg, nicht unglücklich, nein, aber doch ein wenig geknickt von der ständigen Einsamkeit. Von Born abgesehen, ist Margot der einzige Mensch in ganz Paris, mit dem er in der Vergangenheit etwas zu tun gehabt hat. Falls sie und Born wieder zusammen sind, muss und will er ihr aus dem Weg gehen; sollte sich aber herausstellen, dass ihre Trennung endgültig ist, dass der Bruch in den vergangenen gut drei Monaten nicht geheilt wurde, was kann es dann schaden, sich auf eine harmlose Tasse Kaffee mit ihr zu treffen? Er bezweifelt, dass sie daran interessiert sein könnte, die körperliche Beziehung zu ihm wiederaufzunehmen, aber falls doch, hätte er nichts dagegen, wieder mit ihr zu schlafen. Schließlich hatte die unbekümmerte, hemmungslose Margot den erotischen Mahlstrom entfesselt, der zur Raserei dieses Sommers führte. Von diesem Zusammenhang ist er überzeugt. Ohne Margots Einfluss, ohne Margots Körper, der ihn über das komplizierte Innenleben seines Herzens belehrt hatte, wäre die Sache mit Gwyn niemals möglich gewesen. Margot die Furchtlose, Margot die Wortkarge, Margot die Null. Ja, er will sie unbedingt wiedersehen, und sei es nur auf eine harmlose Tasse Kaffee.
Er geht zum Cafe an der Ecke,
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