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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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davon. Ich werde meines Alters beraubt sein. Ich gebe mir Mühe, deswegen keine Verbitterung zu empfinden, aber manchmal kann ich nicht anders. Das Leben ist beschissen, ich weiß, und doch will ich nur eines: mehr Leben, mehr Jahre auf dieser gottverlassenen Erde. Mit den beiliegenden Blättern kannst du machen, was du willst. Du bist ein wahrer Freund, ein guter Mensch, ich vertraue deinem Urteilsvermögen in allen Dingen. Wünsch mir Glück auf meiner Reise. Herzlich, Adam.

    Der Brief erfüllte mich mit unermesslicher, unbezähmbarer Trauer. Erst wenige Stunden zuvor hatte Rebecca mich mit der Nachricht von Walkers Tod erschüttert, und jetzt sprach er wieder zu mir, ein Toter sprach zu mir, und ich hatte das Gefühl, solange ich diesen Brief in der Hand hielt, solange sich die Worte dieses Briefs vor meinen Augen befanden, wäre es, als sei er auferstanden, als sei er mit den Worten, die er mir geschrieben hatte, vorübergehend wieder ins Leben zurückgekehrt. Eine seltsame Reaktion, mag sein, zweifellos eine beschämend schwachköpfige Reaktion, aber ich war zu durcheinander, um die Empfindungen zu zensieren, die mich durchströmten, und so las ich den Brief noch sechs- oder siebenmal, zehnmal, zwölfmal, so viele Male, bis ich ihn Wort für Wort auswendig konnte, ehe ich den Mut fand, ihn beiseitezulegen.
    Ich ging zur Minibar, goss zwei kleine Flaschen Scotch in ein großes Glas und setzte mich wieder aufs Bett, um mir die Skizzen zum dritten und letzten Teil von Walkers Buch vorzunehmen.
    Telegrammstil. Keine vollständigen Sätze. Von Anfang bis Ende so geschrieben. Geht zum Laden. Schläft ein. Macht sich eine Zigarette an. Diesmal in der dritten Person. Dritte Person, Gegenwartsform, weshalb ich beschloss, mich an seine Vorgabe zu halten und seinen Bericht exakt so wiederzugeben - dritte Person, Gegenwartsform. Mit den beiliegenden Blättern kannst du machen, was du willst. Er hatte mir seine Erlaubnis gegeben, und ich glaube keinen Verrat an ihm zu üben, wenn ich seine kryptischen, hingeworfenen Notizen zu vollen Sätzen umformuliere. Trotz meiner redaktionellen Bearbeitung des Textes - im tiefsten, wahrsten Sinne dessen, was es heißt, eine Geschichte zu erzählen, stammt jedes Wort des Kapitels Herbst von Walker selbst.

    HERBST

    Walker trifft einen Monat vor Beginn der von ihm belegten Vorlesungen in Paris ein. Die Idee, in ein Studentenwohnheim zu ziehen, hat er bereits verworfen und muss sich daher auf eigene Faust eine Unterkunft suchen. Am ersten Morgen nach dem Flug über den Atlantik geht er zu dem Hotel, in dem er vor zwei Jahren bei seinem ersten Parisbesuch einige Wochen lang gewohnt hat. Eigentlich möchte er sich von dort aus nach einer besseren Behausung umsehen, aber der halbbetrunkene Concierge mit dem Zweitagebart erinnert sich an ihn von seinem früheren Aufenthalt, und als Walker erwähnt, dass er ein ganzes Jahr in der Stadt bleiben wird, bietet der Mann ihm einen Monatspreis an, der sich umgerechnet auf weniger als zwei Dollar pro Tag beläuft. Nichts ist teuer im Paris des Jahres 1967, aber das ist selbst nach den damaligen Maßstäben außerordentlich billig, fast schon ein Akt der Nächstenliebe, und Walker nimmt das Angebot des Mannes ohne weitere Umstände an. Sie geben sich die Hand darauf, und dann führt der Mann ihn auf ein Glas Wein ins Hinterzimmer. Es ist zehn Uhr vormittags. Als Walker das Glas an die Lippen hebt und den ersten Schluck des sauren vin ordinaire trinkt, sagt er sich: Lebwohl, Amerika. Was auch immer dabei herauskommt, du bist jetzt in Paris. Du darfst dir nicht erlauben, vor die Hunde zu gehen.
    Das Hotel du Sud ist ein altersschwaches, baufälliges Haus an der rue Mazarine im sechsten Arrondissement, nicht weit von der Metrostation Odeon am Boulevard Saint-Germain. In Amerika wäre ein derart heruntergekommenes Gebäude zum Abriss verurteilt, aber hier ist nicht Amerika, und die unansehnliche Ruine, die Walker jetzt bewohnt, ist immerhin ein historisches Bauwerk, errichtet im siebzehnten Jahrhundert, nimmt er an, vielleicht gar noch früher, und so hat seine neue Behausung trotz allem Schmutz und Verfall und trotz der knarrenden, ausgetretenen Stufen der engen Wendeltreppe doch einen gewissen Charme. Zugegeben, sein Zimmer ist ein Katastrophengebiet mit spröde sich abschälenden Tapeten und rissigen Bodenbrettern, das Bett ein uralter Kasten mit Sprungfedern, durchgelegener Matratze und steinharten Kissen, der kleine Tisch wacklig, der Stuhl davor der

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