Unsichtbar
habe ihm versprochen, um Punkt sieben da zu sein. Ich dachte, Ihr Vater würde sich über meine Pünktlichkeit freuen.
Das hätte er bestimmt getan, antwortete sie mit einem Anflug von Trauer in der Stimme.
Bevor ich etwas sagen konnte, wechselte sie das Thema und entschuldigte sich wieder für etwas, das keiner Entschuldigung bedurfte. Ich hatte vor, Sie in den nächsten Tagen anzurufen, sagte sie. Ihr Name steht auf der Liste, und es tut mir leid, dass ich nicht früher dazu gekommen bin. Dad hatte viele Freunde, jede Menge Freunde. So viele Leute, die ich zu benachrichtigen hatte, und dann die Begräbnisvorbereitungen und tausend andere Dinge, um die ich mich kümmern musste, man könnte schon sagen, ich war ein wenig überfordert. Nicht dass ich mich beklage.
In solchen Zeiten ist es schon besser, sich ständig auf Trab zu halten, statt herumzusitzen und Trübsal zu blasen, finden Sie nicht auch? Aber es tut mir wirklich leid, dass ich mich nicht früher bei Ihnen gemeldet habe. Dad war so glücklich, als Sie ihm vorigen Monat geschrieben haben. Solange ich denken kann, hat er von Ihnen geredet; es kommt mir so vor, als kenne ich Sie schon mein ganzes Leben lang. Sein Freund vom College, der Mann, der sich draußen in der großen weiten Welt einen Namen gemacht hat. Es ist mir eine Ehre, Sie endlich kennenzulernen. Ich weiß, die Umstände könnten erfreulicher sein, aber ich bin froh, dass Sie gekommen sind.
Ich auch, sagte ich, ein wenig beruhigt vom Geplätscher ihrer klangvollen, wohltuenden Stimme. Ihr Vater hat an etwas geschrieben, fuhr ich fort. Wussten Sie davon?
Er hat es mal erwähnt. Ein Buch, 1967 sollte es heißen.
Haben Sie es gelesen?
Nein.
Kein Wort?
Keinen einzigen Buchstaben. Vor zwei Monaten sagte er mir, für den Fall, dass er stirbt, bevor er damit fertig ist, soll ich den Text von seinem Computer löschen. Lösch es einfach und vergiss es, sagte er, es ist nicht von Bedeutung.
Und Sie haben es gelöscht?
Selbstverständlich. Es ist eine Sünde, den Wunsch eines Sterbenden zu missachten.
Gut, dachte ich bei mir. Gut, dass diese Frau Walkers Manuskript nicht zu Gesicht bekommt. Gut, dass sie das Geheimnis ihres Vaters nicht erfährt, denn das würde sie zutiefst verletzen, verwirren, vernichten. Ich konnte das verkraften, aber auch nur, weil ich nicht zu Walkers Familie gehörte. Nun stelle man sich vor, sein Kind müsste diese fünfzig Seiten lesen. Undenkbar.
Wir saßen uns im Wohnzimmer auf verschlissenen Sesseln gegenüber. Karges Mobiliar, zwei gerahmte Poster an der Wand (Braque, Miro), eine andere Wand vom Boden bis zur Decke mit Büchern vollgestellt, in der Mitte des Raums ein Baumwollläufer, vor den Fenstern die warme kalifornische Abenddämmerung, gelblich trüb: das sorgenfreie, aber bescheidene Leben, von dem Walker in seinem Brief gesprochen hatte. Ich trank das Wasser aus, das Rebecca mir gegeben hatte, und stellte das Glas auf den niedrigen runden Tisch, der zwischen uns stand. Dann sagte ich: Was ist mit Adams Schwester? Wir haben uns in den Sechzigern gelegentlich gesehen, und ich frage mich oft, was aus ihr geworden ist.
Tante Gwyn. Sie lebt im Osten, deshalb habe ich sie nie richtig kennengelernt. Aber ich habe sie immer gemocht. Eine großzügige, humorvolle Frau, sie und meine Mom haben sich gut verstanden, die konnten gut miteinander. Sie war natürlich zur Beerdigung hier, hat hier im Haus übernachtet und ist heute früh wieder abgereist. Der Tod meines Vaters hat sie sehr mitgenommen. Wir wussten alle, dass er krank war, wir wussten alle, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, aber sie war am Ende nicht selbst dabei, hat nicht miterlebt, wie er uns nach und nach entglitt, und hat daher nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. Sie hat furchtbar geweint bei der Beerdigung, ist buchstäblich zusammengebrochen, und ich musste sie stützen und mich dabei bemühen, nicht selbst zusammenzubrechen. Mein kleiner Adam, hat sie dauernd gesagt. Mein armer kleiner Adam.
Arme kleine Gwyn.
Wir alle waren sehr traurig, sagte Rebecca. Plötzlich trat ein Glitzern in ihre Augen, und als Sekunden später eine Träne aus ihrem linken Auge fiel und an der Wange hinablief, machte sie sich nicht die Mühe, sie abzuwischen.
Ist sie verheiratet?
Mit einem Architekten, Philip Tedesco.
Den Namen habe ich schon mal gehört.
Ja, er ist ziemlich bekannt. Sie sind schon lange verheiratet und haben zwei erwachsene Töchter. Eine davon ist genauso alt wie
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