Unsichtbar
ich.
Als ich Gwyn das letzte Mal gesehen habe, hat sie englische Literatur studiert. Hat sie eigentlich ihren Doktor gemacht?
Das weiß ich nicht genau. Ich weiß nur, dass sie in der Verlagsbranche arbeitet. Leitet einen Universitätsverlag irgendwo in der Nähe von Boston. Ein großer, bekannter Verlag, aber ich komme jetzt einfach nicht auf den Namen. Verdammt. Vielleicht fällt's mir später noch ein.
Keine Sorge. Ist doch nicht wichtig.
Ohne nachzudenken griff ich in meine Tasche und zog eine Dose Schimmelpennincks hervor, die kleinen holländischen Zigarren, die ich seit Studentenzeiten rauche. Ich wollte schon den Deckel aufklappen, bemerkte Rebeccas Blick und zögerte. Bevor ich fragen konnte, ob im Haus geraucht werden dürfe, sprang sie aus ihrem Sessel und sagte: Ich hole Ihnen einen Aschenbecher. Sachlich, verständnisvoll, einer der letzten Menschen in Amerika, die sich noch nicht dem Heer der Tabakpolizei angeschlossen hatten. Dann fügte sie hinzu: Ich glaube, im Arbeitszimmer meines Vaters steht einer - plötzlich schlug sie sich mit dem Handballen an die Stirn und murmelte: Großer Gott, ich weiß gar nicht, was heute mit mir los ist.
Gibt's ein Problem?, fragte ich beunruhigt, weil ich mir ihren jähen Stimmungsumschwung nicht erklären konnte.
Ich habe etwas für Sie, sagte sie. Es liegt auf dem Schreibtisch meines Vaters, und bis jetzt grade habe ich gar nicht mehr daran gedacht. Ich wollte es Ihnen schicken, aber als ich im Terminkalender sah, dass Sie heute Abend hierherkommen, dachte ich mir, ich kann es Ihnen persönlich geben. Aber wenn ich jetzt nicht das Arbeitszimmer meines Vaters erwähnt hätte, hätte ich Sie garantiert mit leeren Händen aus dem Haus gehen lassen. Ich bin wohl schon ein bisschen verkalkt.
Also begleitete ich sie ins Arbeitszimmer: ein mittelgroßer Raum im Erdgeschoss, darin ein Schreibtisch aus Holz, noch eine Wand voller Bücher, Aktenschränke, ein Laptop und ein Telefon - weniger das häusliche Arbeitszimmer eines Rechtsanwalts, eher ein Ort zum Nachdenken, ein Überbleibsel aus Walkers früherem Leben als Dichter. Auf dem zugeklappten Computer lag ein großformatiger brauner Umschlag. Rebecca nahm ihn und reichte ihn mir. Vorne drauf stand mein Name in Blockbuchstaben, unmittelbar darunter in sehr viel kleinerer Schrift: Notizen für Herbst.
Das hat mir Dad zwei Tage vor seinem Tod gegeben, sagte Rebecca. Es muss gegen sechs Uhr abends gewesen sein, denn ich bin direkt von der Arbeit im Krankenhaus hierhergefahren, um nach ihm zu sehen. Er sagte, er habe vor zwei Stunden mit Ihnen telefoniert, und falls und wenn, im Falle seines, ich will das Wort nicht mehr aussprechen, im Falle seines Sie-wissen-schon, solle ich Ihnen das so schnell wie möglich zukommen lassen. Er sah so erschöpft aus ... so furchtbar müde, als er das sagte, und mir war klar, dass es ihm noch schlechter ging als sonst, dass seine Kräfte ihn endgültig zu verlassen begannen. Das waren seine letzten zwei Wünsche. Die 1967-Datei von seinem Computer löschen und Ihnen diesen Umschlag geben. Hier ist er. Ich habe keine Ahnung, was Notizen für Herbst bedeutet. Sie? Nein, log ich. Nicht den leisesten Schimmer.
Abends in meinem Hotelzimmer machte ich den Umschlag auf und fand darin einen kurzen handschriftlichen Brief von Walker sowie einunddreißig engbeschriebene Seiten mit Notizen, die er auf seinem Computer getippt und für mich ausgedruckt hatte. Der Brief lautete:
Fünf Minuten nach unserem Telefongespräch.
Herzlichen Dank für die Aufmunterung. Gleich morgen als Erstes soll meine Haushälterin zur Post gehen und dir das zweite Kapitel per Express schicken. Wenn du dich davon abgestoßen fühlst, und das steht zu befürchten, bitte ich jetzt schon um Verzeihung. Was die Blätter in diesem Umschlag betrifft, so wirst du sehen, dass es sich um Skizzen für den dritten Teil handelt. Hastig geschrieben - Telegrammstil -, aber gerade diese Eile bei der Arbeit half mir, Erinnerungen hervorzuholen, eine Flut von Erinnerungen, und nachdem das Ganze in groben Umrissen fertig ist, weiß ich nicht, ob ich es noch schaffe, ein anständiges Stück Prosa daraus zu machen. Ich bin ausgepumpt, voller Angst, vielleicht ein bisschen geistesgestört. Ich werde das ausgedruckte MS in einen Umschlag stecken und meiner Tochter geben, die es dir schicken wird, falls ich nicht mehr bis zu unserem famosen, oft besprochenen Abendessen durchhalten sollte. So schwach, so wenig Zeit übrig, sie läuft mir
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