Unsichtbare Blicke
dem tat ich. Auch wenn ich noch kein Wort mit ihm gewechselt hatte, er war sicher kein Idiot. Keine dieser Türen würde sich öffnen lassen.
Auf keinen Fall sollte er mich als verzweifeltes, dummes Ding erleben, kein Häufchen Elend, das am Ende zusammensinken und heulen würde.
Ich befolgte seine Anweisung und trat in den Raum, den er mir genannt hatte. Der Gestank von Chlorsteinen schnitt sich augenblicklich durch meinen ganzen Körper. Ich atmete durch den Mund, was die Sache nicht viel besser machte, der chemische Geschmack der Luft legte sich sofort auf meine Schleimhäute.
Mit der einen Hand tastete ich nach einem Lichtschalter; eine Reihe von Schirmlampen flammte auf.
Ich zuckte zurück, nicht wegen der Helligkeit; der Raum war so unerwartet groß.
In der Mitte zog sich eine Art langer Waschtrog bis zum anderen Ende. An Eisengestängen waren Ablagen befestigt, links und rechts bogen sich Wasserhähne über das durchgehende Becken, sodass sich mehrere Personen jeweils gegenüberstehend gleichzeitig waschen konnten. An beiden Wänden waren Metallgestelle mit Wandhaken und einer Sitzfläche aus Holzleisten befestigt.
Ein Wasserhahn tropfte. Rostbraune Schlieren zogen sich nur die Becken. An vielen Stellen war die Emaille abgeplatzt, und das grün angelaufene Material darunter schimmerte durch die weiße Fläche.
Es gab nur einen Abfluss auf jeder Seite, die Tröge mussten leicht abschüssig sein, damit das Wasser ablaufen konnte. In dem Siphon hatten sich Haare gesammelt. Sie waren nicht trocken und alt, sondern wirkten, als seien sie noch nicht lange dort.
Vielleicht lag es an dem tropfenden Hahn, dachte ich zuerst, vielleicht tropft er hier seit Ewigkeiten, weil er undicht ist. Ich griff nach dem altmodischen runden Verschlussrad, mit dem man das Wasser zudrehen konnte. Es bewegte sich ein paar Millimeter nach rechts, und das Tropfen endete.
Das Haarbüschel im Siphon glänzte rot, etwas dunkler als meine und mit wenigen grauen Fäden durchzogen.
«Ist alles in Ordnung?», hörte ich seine Stimme im Flur. Er klopfte an die Tür.
Ich rannte schnell weiter zu den Toiletten, pinkelte rasch und ging zurück in den Flur.
«Ein bisschen riesig für ein einziges Kind», sagte er mit diesem Lächeln, das offensichtlich in sein Gesicht gemeißelt war. «Oh, Entschuldigung, Kind, wie konnte ich Kind sagen. Du bist ja fast schon eine junge Frau.»
Als ich vor ihm her an den anderen Türen entlangging, fragte ich mich, ob auch diese Zimmer besetzt waren. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, mich nun doch gegen den kalten glatten Stahl zu werfen, dagegenzuhämmern, bist du da? zu schreien, bist du dadrinnen, ich bin Josie …
Ein einziges Kind. Er hatte es gesagt. Da war sonst niemand.
Die Panik quoll bei jedem Schritt durch den Flur in mir auf, im Bauch genau wie im Kopf, Mut und Klarheit, alles verdrängte sie und wischte alle anderen Gedanken weg. Ich spürte, wie meine Beine schwer wurden.
Du musst wieder hinein. Er schließt hinter dir ab. Die Stunden werden nicht vergehen, die Müdigkeit kommt, aber das Licht brennt, und in der Dunkelheit bist du wach. Kein Tag, keine Nacht.
Felix, Mama, Sarah! Wo waren sie?
Zum ersten Mal fragte ich mich, was er von mir wollte? Erst jetzt fiel es mir auf, dass ich mir diese wichtigste aller Fragen bisher nicht einmal gestellt hatte. Ich brauchte eine Antwort, fragen würde ich ihn allerdings nicht. Kein Wort.
«Hast du etwas gesagt?», fragte er.
Ich reagierte nicht darauf, mit keinem Ton, keiner Regung.
Er verschloss die Tür hinter mir, und kurz darauf wurde es dunkel. Ein schleifendes Geräusch war zu hören, Metall rieb sich an Metall. Vermutlich hatte er die Luke geöffnet. Seine Stimme klang gedämpft.
«Deine Mutter gab dir eigentlich einen anderen Namen, meine Kleine, aber wenn du willst, werde ich dich weiter Josie nennen. Ich kann dir viel über deine Mutter erzählen und über die Leute, die sich deine Eltern nennen. Und über Geronimo. Aber du musst mich schon darum bitten.»
Wieder das schleifende Geräusch. Ein Klacken. Er hatte den Riegel vorgeschoben.
43
Stella trat mit verschlossenen Augen vor den Spiegel im Badezimmer. Sie atmete dreimal ein und aus und schaute sich an. War schon schlimmer, dachte sie.
Ihr Körper hatte sie – auf dem Sofa, nach einer halben Pizza Spinaci und einer Flasche Budweiser, mit der Akte von Lena Bruckner oder Zusak auf dem Bauch – in einen komaähnlichen Schlaf von fast zwölf Stunden gezwungen. Allen anderen
Weitere Kostenlose Bücher