Unsichtbare Blicke
anberaumt. Auf dem Weg dorthin wälzte sie das Für und Wider ihrer eigenen Idee ein letztes Mal im Kopf hin und her. Winterstein wollte mit irgendetwas in die Öffentlichkeit, daran bestand kein Zweifel.
Die Indizien gegen ihren Unbekannten mit den fehlenden Fingern waren dünn, es waren nicht einmal Indizien. Wenn Winterstein oder irgendwer sonst damit an die Presse ging, verschwand der Täter auf Nimmerwiedersehen und Josie mit ihm. Die Feinde, die sie in diesem Amt immer noch hatte, würden nicht davor zurückschrecken, diesen Fall gehörig zu vermasseln.
Muthaus und Petra Kronen erwarteten sie bereits. Der Wuppertaler Kommissar zwinkerte Stella unauffällig zu. Wir haben etwas!, signalisierte er Stella.
«Vielleicht wäre es tatsächlich nicht falsch, der Presse etwas zu liefern», eröffnete sie die Besprechung. Sie musste Winterstein beschäftigen, das wurde immer deutlicher.
Winterstein quittierte die überraschende Anmerkung mit einem erleichterten: «Na, also!»
«Das bringt Josie Sonnleitner in unmittelbare Gefahr», sagte Saito mit einem Kopfschütteln. «Die meisten Serientäter mögen es gar nicht, wenn sich andere mit ihren Lorbeeren schmücken.»
«Er funktioniert aber nicht wie die meisten Serientäter», sagte Stella. «Er hat nicht von sich aus die Öffentlichkeit gesucht. Er sonnt sich nicht in seinen Taten. Er sucht nicht einmal den Kontakt zu uns.»
Serienmörder arbeiteten meistens nach einem Muster, das sie zwar variierten und weiterentwickelten, aber letztendlich folgten sie einer Art Phasenmodell, das sich fast immer aus psychologischen Grundmustern ableitete, die vielen Tätern gemein waren. Dazu gehörten Auffälligkeiten im Vorfeld der ersten Aktionen, manchmal zogen sie sich über Jahre hin. Abweichendes Verhalten, das aber unentdeckt blieb, heimliche Gewaltexzesse gegen Tiere, Voyeurismus, unbemerkte und letztendlich nicht ausgeführte Phantasien, die die Taten vorwegnahmen. Irgendwann ein auslösendes Ereignis, das alles Weitere in Gang brachte.
Die Verbrechen steigerten sich von Mord zu Mord, sie wurden perfekter, aber auch riskanter. Der stärkere Kick musste her, weil das Gefühl der Sicherheit, der Allmacht und gleichzeitig der Minderwertigkeit sich weiter hochschaukelten. Oft begannen sie ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Ermittlern, und oft drückte sich in kleinen, fast unbewusst gestreuten Botschaften auch der Wunsch aus, dass die Polizei dem Treiben ein Ende machen, sie sozusagen erlösen sollte. Zu all dem gehörte seit einigen Jahren auch die Instrumentalisierung der Medien.
«Das alles tut unser Mann nicht. Er verfolgt einen Plan, vielleicht kennt er ihn selbst nicht genau, aber er folgt einem vorgezeichneten Ablauf. Es gibt nur eine Abweichung darin, und die ist gleichzeitig auch sein erstes Signal an uns.»
Alle Blicke waren auf Stella gerichtet. Keiner hatte auch nur die geringste Ahnung, was sie damit meinte.
«Mit der Tat an Sarah hat er uns zum ersten Mal direkt ins Visier genommen, und er bietet uns auch gleichzeitig einen Täter, nämlich Felix Diuso. Und ich bin davon überzeugt, dass er uns auch mit seinem Nickname auf die falsche Spur bringen wollte. Er hat den Namen Geronimo gewählt, weil er irgendwie von der Vergangenheit Horst Sonnleitners wusste.»
«Weder weiß ich, was Sie damit meinen, noch wie Sie darauf kommen», sagte Winterstein. Er hatte sich offensichtlich etwas anderes erhofft. «Frau van Wahden, bei aller Liebe», sein überheblicher Blick drückte alles andere als Liebe aus, «wir haben schon viel von Ihren eigenwilligen Methoden gehört, aber bitte bleiben Sie bei den Tatsachen.»
«Und die sind?»
«Sperma. Das Sperma von Felix Diuso. In und an unserem dritten Opfer. Wenn Sie mir erklären können, wie es dorthin gekommen ist, bekommen Sie von mir jegliche Freiheit für die weiteren Schritte.»
Das Grinsen in Stellas Gesicht konnte wie eine Provokation wirken, aber sie gab sich keine Mühe, es zu unterdrücken. Ich brauche Ihre großzügige Freiheit gar nicht, dachte sie, aber noch hielt sie sich zurück. Stattdessen reihte sie einige Fotoabzüge in der Mitte des Tischs auf. Es waren die heimlichen Schnappschüsse, die sie in Josies Spind im Altenheim gefunden hatte.
«Bitte, muss das sein?!», beschwerte Winterstein sich sofort.
Er kann sich zermetzelte Leichen besser anschauen als das, dachte Stella. Winterstein war noch verklemmter, als sie erwartet hatte. «Was sehen wir hier?», fragte sie in die Runde.
«Hören Sie doch
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